Es ist 20:25 Uhr. Das Zubettbringen meiner Tochter sollte bereits seit einer Stunde abgeschlossen sein, doch zum gefühlt hundertsten Mal wird die Türklinke zum Wohnzimmer langsam runtergedrückt und ein verwuschelter Kopf schaut herein. „Mamaaaa, ich kann immer noch gar nicht schlafen! Liest du mir noch eine Geschichte vor? Nur noch eine? Bütteeeee…“
Jeder Außenstehende wäre wahrscheinlich entzückt über dieses kleine Pyjama-Monsterchen, und würde sofort zum Vorlesen eilen. Aber nicht ich, denn ich kann einfach nicht mehr.
Natürlich, wir sind schon weit gekommen. Keine stundenlange Schlafbegleitung, keine im zwei-Stunden-Takt unterbrochenen Nächte mehr. Dennoch sind vor allem die Abende mit einer fast Fünfjährigen so ermüdend, denn vom Zähneputzen bis zum Einschlafen vergehen bei uns fast jeden Abend zwei Stunden. Und das, obwohl das Zubettbringen mit unserem schönen Abendritual nicht mehr als 20 Minuten bräuchte.
Trotzdem bringt mich der Satz „Nur noch eine“ allabendlich beinahe dazu, auch noch den allerletzten Nerv zu verlieren. Ich muss mich arg beherrschen, jetzt nicht laut zu werden. Wie fast jeden Abend.
Versteht mich nicht falsch, ich liebe meine Tochter über alles. Mein kleines Mamakind, das einfach nicht genug bekommt von kuschliger Zweisamkeit. Doch an manchen Abenden ist mein Fass der mütterlichen Geduld und des mitfühlenden Verständnisses einfach leer.
Seit dem Morgen wurde dieses Fass nämlich mit jeder Bitte, bei den alltäglichen Dingen einfach irgendwie zu kooperieren, Kelle für Kelle ausgeleert.
Die ersten Kellen werden schon gegen 6:30 Uhr entnommen, wenn es heißt „Bitte trink deinen Kakao“, „Bitte nimm den Ellbogen aus der Kakaopfütze“, „Bitte geh dich schonmal anziehen“, „Nein, bitte erst den Kakao am Arm und im Gesicht abwaschen, sonst ist dein sauberes T-Shirt doch gleich voller Schokoflecken“.
So geht es bis zur Kindergartentüre weiter und setzt sich nach der Arbeit mit der Abholung am frühen Nachmittag meist durchgehend bis zum Abend fort.
Nach den anschließenden allabendlichen Bitten, wenigstens die eine Butterbrothälfte aufzuessen, im Zimmer zumindest einen kleinen Trampelpfad frei zu räumen, beim Zähneputzen den Zugang zu den Zähnen doch bitte zu ermöglichen, sich die Haare ohne wildes Um-sich-schlagen bürsten zu lassen und noch einmal auf die Toilette zu gehen, auch wenn die Blase gerade nicht drückt… Nach all diesem Bitten, Diskutieren und Antreiben ist das Fass so gut wie leer.
Wenn dann jedoch das noch folgende Abendritual aus Gutenachtgeschichte, Schlaflied, tausend Küssen und beschwörenden Träum-was-Schönes-Wünschen, nochmal was trinken, nochmal zudecken, nochmal das eine, ganz bestimmte Stofftier suchen, nochmal ein paar Schlafsocken anziehen, gefolgt von nochmal tausend Küssen und beschwörenden Träum-was-Schönes-Wünschen zum Zubettbringen immer noch nicht reicht, dann ist das Fass sowas von staubtrocken.
So trocken, dass es zu Staub zerfällt, wenn ich noch ein einziges Mal „Nur noch eine!“ höre.
Nein, als Außenstehender kann man das nicht verstehen. Ich verstehe es meistens selbst nicht. Schon eine Stunde später, wenn sie dann doch endlich eingeschlafen ist, verstehe ich schon nicht mehr, warum ich nicht einfach noch eine kurze Geschichte gelesen habe. Denn eigentlich genieße ich das selbst auch.
Leider versteht es meine Tochter am allerwenigsten. Sie weiß nichts von meinem Fass und hat keine Vorstellung davon, wie es sich anfühlt, wenn es staubtrocken ist.
Deshalb kann sie nicht nachvollziehen, dass sich in dem Moment, in dem sie die Türklinke zum Wohnzimmer leise runterdrückt und ihren Wuschelkopf durch den Türspalt steckt, nachdem ich mich am Ende des täglichen 14 Stunden Marathons gerade völlig erschöpft auf dem Sofa fallen gelassen habe, ein Schalter in meinem Kopf umlegt.
Sie weiß nicht, dass ich den ganzen Tag über nicht nur für sie funktioniert habe, sondern auch noch meine Pflichten für Auftraggeber, Ehemann, Erzieherinnen, Freundinnen, Nachbarn und andere erfüllt habe und abends, sobald mein Rücken die Sofalehne berührt, einfach nicht mehr funktionieren kann. Das Zubettbringen meiner Tochter ist meine letzte Leistung des Tages.
Ihre Mama ist dann nur noch ein Roboter, dessen Akku leer ist und bei dem nur noch ein rotes Lämpchen leuchtet. Wobei sich dieses rote Lämpchen bei mir dann eben oft in einem unfreundlich deutlichen „GEH – JETZT – BITTE – EINFACH – ENDLICH – SCHLAFEN!“ äußert.
Für mehr reicht es nicht mehr. Nicht für „nur noch einmal zudecken“ und erst recht nicht für „nur noch eine Geschichte“.
Meistens. Wenn nicht zuvor über den Tag verteilt kleine Wunder geschehen sind. Wunder wie zum Beispiel, dass meine Tochter eine oder zwei Stunden glücklich allein gespielt hat, oder dass mein Mann früher zuhause ist und das Abendessen kocht.
Doch zum Glück passieren diese kleinen Wunder immer häufiger. Fast unbemerkt werden es sehr langsam immer mehr Abende, an denen beim Zubettgehen sogar noch ein letzter Reservetropfen im Fass bleibt.
Und so warte ich vorfreudig auf den Tag, an dem es mir nicht mehr vor dem Abend graust, sondern ich voller Glück auf unser geliebtes Abendritual warte – in dem Wissen, dass mein Fass-Inhalt auf jeden Fall reichen wird.