Für die meisten Eltern ist die Eingewöhnung in der Kita ein riesiger Schritt. Kein Wunder, schließlich vertrauen wir das Liebste, was wir haben, völlig fremden Menschen an. Natürlich gehen wir davon aus, dass die Erzieher*innen sich bestmöglich und vor allem liebevoll um unsere Kinder kümmern. Schließlich haben sie den Job selbst gewählt und eine entsprechende Ausbildung gemacht. Aber was, wenn es hinter den Kulissen gar nicht so ist? Wenn es unseren Kleinen in der Kita nicht so gut geht, wie wir denken (und es uns wünschen)? Schließlich erreichen uns immer wieder erschreckende Meldungen von Erzieher*innen, die Kinder in der Kita misshandeln.
Ob das wirklich absolute Ausnahmefälle sind, und was in deutschen Kitas wirklich tagtäglich passiert, diesen Fragen ist Reporter Günter Wallraff mit seinem Team nachgegangen. Zwei Jahre lang hat das „Team Wallraff“ in verschiedenen Kitas in ganz Deutschland recherchiert, ist Hinweisen nachgegangen und hat mit (ehemaligen) Erzieher*innen und Eltern gesprochen. Die Ergebnisse waren jetzt in der Reportage „Undercover in Kitas – Was passiert mit unseren Kindern“ zu sehen – und sie sind wirklich mehr als erschreckend.
In Deutschland fehlen mehr als 98.000 Erzieher*innen
Einen Kitaplatz zu finden, ist für viele Eltern ein langer Kampf und ein Glücksspiel. Kein Wunder, denn obwohl in Deutschland jedes Kind ab einem Jahr einen rechtlichen Anspruch auf einen Kitaplatz hat, ieht die Realität leider anders aus. Denn aktuell fehlen mehr als 383.000 Kitaplätze – und rund 98.000 Erzieher*innen. Kein Wunder also, dass Personalmangel, Unterbesetzung und Zeitmangel immer wieder zu einer völligen Überlastung führen. Das ist uns allen schmerzlich bewusst, trotzdem war ich mehr als geschockt, als ich gesehen habe, was Günter Wallraff und sein Team in verschiedenen Kitas erlebt haben. Denn bei allem Verständnis für die Situation der Erzieher*innen, sind die Kinder die Letzten, die unter der Situation leiden dürfen.
Trotzdem gibt es immer wieder Meldungen wie die aus einer Kita in Solingen, in der es mehrfach zu heftigen Übergriffen einer Erzieherin gegen die Kinder kam. Nachdem eine Kollegin das gemeldet hatte, wurde die betreffende Person zwar suspendiert, aber die Kinder leiden teilweise noch heute unter den Folgen. Unter Tränen berichten die Eltern, dass ein Junge auch ein Jahr nach den Vorfällen noch Angst habe, allein zu sein. Ein Mädchen nässt seitdem nachts wieder ein.
Noch dramatischer ist der Fall aus Viersen, bei dem die 3-jährige Greta von einer Erzieherin so schwer misshandelt wurde, dass sie an den Folgen starb.
Team Wallraff recherchierte undercover in verschiedenen Kitas
Wie der Alltag in unseren Kitas wirklich aussieht, das wollten Günter Wallraff und sein Team herausfinden. Nachdem sie viele Hinweise zu verschiedenen Kindergärten bekamen, recherchierten sie in einigen Einrichtungen undercover direkt vor Ort. Dafür verwandelte sich Reporterin Alesia Harrer in Praktikantin Alicia. Das erste, was auffiel: Sie bewarb sich in insgesamt 13 Kitas als Praktikantin. Nur drei Einrichtungen wollten ein polizeiliches Führungszeugnis sehen – und kein einziges Mal wurde nach ihrem Personalausweis gefragt. Nicht sehr beruhigend, wenn man bedenkt, dass sie täglich mit den Kindern zu tun hat.
Weinendes Kind auf der Fensterband abgelegt
Die erste Kita, in der Alesia landet, liegt in Solingen. Zwei ehemalige Mitarbeiterinnen hatten sich bei Günter Wallraff gemeldet und schwere Anschuldigungen gegen einige Erzieherinnen der Einrichtungen erhoben. Vor Ort erlebt die Reporterin selbst, wovon dabei die Rede ist: Während die Kinder ihren Mittagsschlaf machen, essen die Erzieherinnen Mittags und sind mit ihren Handys beschäftigt. Soweit, so gut. Doch dann wacht der 1-jährige Nick auf und weint. Eine der Erzieherinnen nimmt ihn kurz hoch – und legt ihn dann auf der Fensterbank ab, um in Ruhe weiter zu essen. Ihr Kommentar: „Ja, Nick, dass passiert, wenn man nicht genug schläft!“ Während der Kleine minutenlang weint, lassen die Erzieherinnen sich nicht stören. Ganz im Gegenteil: Sie lachen offenbar über den Kleinen, äffen ihn sogar nach. Auf die Idee, den 1-Jährigen zu trösten, kommen sie offenbar nicht.
Kinder mit Gewalt zum (Auf-)Essen gezwungen
In einer Kita in Süddeutschland herrscht nach Aussage einer ehemaligen Erzieherin den „ganzen Tag ein Zwang, ein Schreien, ein Drohen“. Kindern würde unter Anderem mit dem Satz Angst gemacht „Wenn du das jetzt nicht machst, dann holt Mama dich nicht ab!“ Schon allein der Gedanke, was das bei einem so kleinen Menschen auslösen kann, sorgt bei mir für Fassungslosigkeit.
Aber damit nicht genug: Auch das Thema Essen spielt für eine Erzieherin, die in der Reportage Beate genannt wird, offenbar eine große Rolle. Die Reporterin beobachtet, wie ein 2-jähriges Mädchen nach dem Essen ganz allein am Tisch sitzt, weil sie sich zu viel Reis genommen hat. Beate sagt, bevor der Teller nicht leer ist, kriegt die Kleine ihren Joghurt nicht, obwohl das ihr Lieblingsnachtisch ist. Als es der Erzieherin zu lange dauert, nimmt sie den Joghurt schließlich weg und schimpft mit dem weinenden Mädchen.
Für Lutz-Ulrich Besser, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, ist das Verhalten der Erzieherin „ziemlich katastrophal„. Dem Kind werde weder in angemessenem Ton und mit verständlichen Worten erklärt, warum es aufessen solle, so der Experte. „Außerdem wird Essen mit Zwang besetzt: ‚Wenn du nicht das tust, was ich dir sage, nehm ich dir das, was du gern magst, weg‘.
Kitaleitung dementiert alle Vorwürfe
Als das Team die Kitaleitung mit den Vorwürfen konfrontiert, antwortet eine Anwaltskanzlei: „Nein, es stimmt nicht, dass in der Einrichtung unserer Mandantin (…) auf Kinder Druck und/oder Zwang beim Essen ausgeübt wird. Wenn ein Kind dann auch nicht (auf-)essen möchte, muss es das natürlich auch nicht. Auch nicht, um „anschließend (die) Lieblingsnachspeise zu erhalten.“ Die mit versteckter Kamera gefilmten Bilder aus der Einrichtung sagen allerdings etwas Anderes. Genau so sieht die Antwort übrigens bei allen anderen Vorwürfen aus – statt Einsicht oder Betroffenheit zu zeigen, wird grundsätzlich alles dementiert.
Erzieherin stopft weinendem Kind Brot in den Mund
Das Thema Essen scheint Beate besonders wichtig zu sein. Als die Kitagruppe auf einem Spielplatz in der Nähe eine Pause macht, möchte ein 1,5-jähriger Junge lieber spielen. Das passt der Erzieherin offenbar nicht, und sie stopft dem weinenden Kleinen sein Brot in den Mund. Bevor er nicht aufgegessen hat, darf er nicht spielen. Selbst Kolleginnen der Erzieherin sind mit diesem Vorgehen nicht einverstanden. Darauf angesprochen, sagt eine, dass sie das nicht könne und nicht machen, schließlich bekämen die Kinder davon Traumata. Trotzdem: Laut der Informantinnen des Recherche-Teams sollen Kinder in der Einrichtung täglich zum Essen gezwungen worden sein.
Abgesehen von den direkten Ängsten der Kinder kann dieses Verhalten auch langfristige Folgen für die Kleinen haben, wie Lutz-Ulrich Besser erklärt. „Die Kinder lernen dann nicht, dem normalen Hungergefühl zu folgen“, so der Experte. „Das Kind lernt nicht, welche Art von Nahrung und wie viel davon brauche ich. Wenn das überlagert wird durch Druck und Zwang, dann kann man davon ausgehen, dass sie Nahrungsaufnahme mit Stress und negativen Aspekten besetzt ist“.
Weinenden Kindern wird gedroht, sie einzusperren
Wie die heimlichen Aufnahmen zeigen, hat Beate offenbar nicht nur beim Thema Essen eine sehr strikte Einstellung, sondern fühlt sich auch überfordert, wenn ein Kind mehr Aufmerksamkeit braucht. So hat der 2-jährige Toni nach den Wochenende Probleme, wieder in der Kita anzukommen. Weinend fragt er immer wieder nach seiner Mama. Auf dem Schoß seiner Lieblingserzieherin beruhigt er sich langsam, bis dort ein anderes Kind sitzt. Dann weint er wieder stärker. Erzieherin Beate ist genervt und sagt dem 2-Jährigen, dass er „bitte da reingehen (soll) zum Brummen“, weil es ihr „zu lästig“ sei. Sie nimmt ihn am Arm und setzt in in die Spielecke. Als er auch dort noch weint, ermahnt sie ihn, und schlägt ihm vor, in einen anderen Raum zu gehen. „Da kann man die Tür zu machen, muss ich das nicht anhören“.
Auch der kleine Sebastian ist offenbar zu viel für die schon etwas ältere Erzieherin. Der 2-Jährige hat eine Verhaltensauffälligkeit und benötigt besonders viel Aufmerksamkeit. Zum Mittagsschlaf wirft eine Erzieherin ihn grob auf eine Matratze und die Decke hinterher. Beate gibt im Gespräch zu, dass sie mit der Situation überfordert sei. Das wird in verschiedenen Situationen mehr als deutlich. Als die Gruppe rausgehen möchte, und die Kinder sich anziehen sollen, weigert der 2-Jährige sich, sich hinzusetzen. Die Erzieherin hält ihn daraufhin fest und klemmt ihn zwischen ihren Beinen ein, während der Kleine sich mit aller Kraft wehrt.
Der Experte ist bei diesen Bildern entsetzt: „Das gehört überhaupt nicht in die Erziehung von Kindern. Körperliche Gewalt. Ich muss ein Kind begleiten, aber darf es nicht in eine Ohnmachtsposition bringen. Das heißt nicht, dass das Ziel nicht bleibt, dass wir jetzt gemeinsam spazieren gehen wollen. Aber der Weg dorthin, den durch Gewalt zu erzwingen, ist absolut schädlich für diese Kinder.“
In einer privaten Kinder ist den Erzieherinnen das Wickeln zu viel
In einer anderen, privaten Kita (für die die Eltern nebenbei viel Geld bezahlen) geht es unter anderem um das Thema Wickeln. Die Erzieherinnen sagen, es gibt feste Wickelzeiten. Doch ein Papa bittet sie darum, die Windeln seiner Tochter häufiger zu wechseln, da sie einen wunden Po habe. Das scheint die Erzieherinnen allerdings nicht zu stören. Sie versuchen sich gegenseitig, das Wickeln zuzuschieben, ignorieren es dann aber komplett, schauen teilweise lieber auf ihre Handys – und warten, bis der Papa seine Tochter wieder abholt und die Windel selbst wechselt.
Als Begründung sagt eine der Erzieherinnen: „Manche Eltern denken, dass wir hier eine Einzelbetreuung machen. (…) Wir haben hier 12 Kinder. Es ist nicht so, dass wir jedem Kind ständig den Po beschnüffeln.“ Noch erschreckender ist es, wenn man hört, es würde stören, dass die Windel des Mädchens immer so komisch „nach (ausländischem) Futter rieche“.
Dass ein Kind mit einer vollen Windel in dieser Kita nicht gewickelt wird, ist scheinbar kein Einzelfall, wie eine ehemalige Kollegin berichtet. Demnach hätten die Erzieherinnen das regelmäßig wissentlich ignoriert.
Für Erziehungswissenschaftlerin Dr. Anke Elisabeth Ballmann ist das ein klarer Fall von Vernachlässigung. „Die machen sie hier keine Arbeit. Das Wickeln gehört im Krippenbereich einfach dazu, das ist Krippenalltag. Wenn ich Probleme habe mit Fäkalien, kann ich den Job nicht machen.“
Es wird dringend Zeit, etwas zu ändern – aber was eigentlich?
Das sind nur einige Beispiele aus der Reportage, die teilweise schon beim Anschauen schwer zu ertragen ist. Wie schlimm muss es dann erst für die betroffenen Kinder und ihre Familien sein? Für die Eltern, die mitansehen müssen, was ihre Kinder in der Kita tagtäglich erleben durchmachen? Wie oben schon geschrieben: Natürlich sind Personal- und Zeitmangel und die chronische Überlastung vieler Erzieher*innen ein oft genannter Grund in diesem Zusammenhang. Trotzdem dürfen sie niemals eine Rechtfertigung für körperliche und psychische Gewalt an Kindern sein.
Dass aufgrund der Personalnot auch Quereinsteiger*innen der Einstieg in Erziehungsberufe ermöglicht wird, ist grundsätzlich eine gute Sache. Trotzdem kann es doch nicht sein, dass nicht einmal kontrolliert wird, wer den ganzen Tag unsere Kinder betreut. Trotzdem darf es nicht sein, dass die Kleinen unter den Folgen der Überlastung leiden, und das im schlimmsten Fall noch Jahre später.
Aber was müsste sich eigentlich genau ändern, um das zu verhindern? Vermutlich würde es grundsätzlich helfen, die Arbeitsbedingungen für Erzieher*innen zu verbessern, und ihre Arbeit auch gehaltstechnisch entsprechend zu würdigen. So würde man zumindest einen Anreiz schaffen und den Job für viele attraktiver machen. Auch regelmäßige Kontrollen in den Einrichtungen könnten hilfreich sein und sollten zum Standard gehören. Außerdem würde ich persönlich mir wünschen, dass die Eltern mehr darüber informiert werden, was ihre Kinder jeden Tag in der Kita erleben. Ich weiß aber auch, dass genau das häufig wieder an der fehlenden zeit scheitert. Ob das schon ausreicht? Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht.
Was denkt ihr denn dazu? Was würdet ihr euch für eure Kita wünschen? Welche Erfahrungen habt ihr in eurer Einrichtung gemacht? Schreibt uns eure Meinung in die Kommentare –
Wenn ihr euch die ganze Folge von „Team Wallraff“ anschauen möchtet, findet ihr sie hier kostenlos bei RTL+: „Undercover in Kitas – Was passiert mit unseren Kindern“