„Ich liebe das zweite Kind nicht so wie das erste. Ich liebe es anders. Wie soll ich zwei Kinder gleich lieben, die so unterschiedlich sind?” Diese Worte schrieb uns eine Zweifach-Mama, die offen zugab, ihre Kinder nicht immer gleich zu behandeln – und auch mal eines zu bevorzugen.
Tabuthema Lieblingskind – haben heimlich alle Eltern eins?
Das Thema ist ein Tabu, schließlich haben alle Kinder das gleiche Recht auf Liebe. Trotzdem sind wir Menschen und unsere Gefühle können wir nicht einfach steuern. Wenn dann doch mal eine Mutter offen zugibt, dass sie ein Lieblingskind hat, lässt der Shitstorm meistens nicht lange auf sich warten. Dabei zeigen Studien immer wieder, dass vermutlich alle Eltern (zumindest phasenweise) eines ihrer Kinder bevorzugen.
Wir haben das Thema deswegen mit einer Expertin besprochen: Frau Dr. Dagmar Brandi, Kinder- und Jugendärztin sowie Psychotherapeutin, spricht mit uns über das Phänomen „Lieblingskind” und weiß, worauf es zurückzuführen ist.
Haben wirklich alle Mütter ein Lieblingskind?
Für Frau Dr. Brandi ist es keine Frage, ob Eltern Lieblingskinder haben: „Ja, definitiv sind Eltern unterschiedlich und lieben ihre Kinder auch unterschiedlich, je nach Temperament, Aussehen und Belastungen in der Schwangerschaft.” Gerade das oft angenommene „Recht auf Mutterliebe” hinterfragt die Psychotherapeutin: „Das, was wir Mutterliebe nennen, ist ein Konstrukt. Es handelt sich um ein fürsorgliches Erwachsenenverhalten gegenüber einem abhängigen Menschenkind, um ihm Sicherheit und Vertrauen für das selbständige Leben in dieser Welt zu ermöglichen.”
Aber das können nicht alle Eltern ihrem Kind bieten: „Das ist realistisch je nach Lebensumständen für jedes Kind anders, denn jedes Kind kommt einzigartig auf die Welt. Wenn Elternschaft nicht ersehnt worden ist, weil die Partnerschaft nicht passt, andere Nöte alle Energie fressen, Angst und Verzweiflung wachsen je dicker der Bauch ist, dann haben die Bindungshormone viel zu tun, damit die Verliebtheit der Eltern nach der Geburt entsteht. Dennoch gibt es geliebte Babys in unmöglichen Situationen.”
„Liebe lässt sich nicht befehlen, aber Liebe lässt sich lernen.”
Selbstverständlich gibt es auch den umgekehrten Fall: „Es gibt auch Babys, die weniger Elternliebe bekommen, obgleich es nach außen so perfekt aussieht. Liebe lässt sich nicht befehlen. Aber Liebe lässt sich lernen.” Und eines ist sicher: „Jede Mama braucht neben der Liebe für ihre Kinder auch genug Eigenliebe, um gesund zu bleiben, Liebe zu anderen Menschen, um Hilfe zu haben und zum Beruf, um die Arbeit gut und gern zu schaffen.”
Im wahren Leben sei es nicht so einfach, alles in gerechte Stücke zu teilen. Schon gar nicht, wenn mehrere Kinder das größte Stück ergattern wollen würden, erklärt die Expertin.
„Geschwister scheinen nur ein Ziel zu haben: Sie wollen auf keinen Fall schlechter behandelt werden als die anderen. Lauthals beklagen sie sich, streiten, treten, kratzen und petzen, um gerecht behandelt zu werden. Klar ist aber auch, dass dies schwierig ist, weil die Bedürfnisse unterschiedlich sind. Eine Vorliebe der Eltern kann leicht als Liebe ausgelegt werden. Natürlich behandeln wir nicht alle gleich und auch keine Mama ist dazu verdonnert. Noch nicht einmal kann man erwarten, dass sie ihre Kinder gleich liebt.”
Wie unsere persönlichen Vorstellungen zur eigenen Familie entstehen
Schon im Kindergarten entstehen Vorstellungen von Familie und den Wünschen selbst mal eine zu haben, weiß Dr. Brandi. „Wie wir uns das in dem Alter vorstellen, hängt sehr von unseren Rollenvorbildern ab. Mit vier oder fünf Jahren üben wir diese ein. Im Laufe unseres Lebens verändert sich die Sichtweise darauf noch einmal gehörig. Wenn der Wunsch zur Familiengründung im Erwachsenenleben neu erwacht und der geeignete Partner gefunden wird, kommen die alten Fantasien wieder hervor.”
Schwangere würden bereits von der Mutterschaft träumen und sich das Leben mit Baby in ihrer Fantasie ausmalen. „Gegen Ende der Schwangerschaft ist es wichtig, dass sie ihre Erwartung des fantasierten Babys aufgibt und gespannt bis zur Geburt darauf wartet, wie ihr Kind tatsächlich ist. Idealerweise helfen ihr die Hormone bei einer stressarmen Geburt sofort in das tatsächliche Baby ‚schockverliebt‘ zu sein.”
Nicht alle Babys wachsen als Wunschkinder auf
Zwei Drittel aller Babys werden als Wunschkinder geboren und wachsen auch in diesem Gefühl auf, erklärt die Expertin. „Bei einem Drittel der Geburten gibt es viele unterschiedliche Möglichkeiten, warum Eltern überfordert sind und so stark mit sich beschäftigt, dass sie ihr Baby unmöglich so lieben können, wie sie es sich erträumt haben.” Diese Eltern seien oft sehr enttäuscht und würden sich wegen ihres Mangels schämen.
In dem Fall ist eine einfühlsame Hebamme oder andere Person notwendig als Hilfe, um die anfänglich so schwierige Bindung nachträglich entstehen zu lassen.” Dafür gäbe es „Babyambulanzen“. Geschehe dies nicht, bliebe das Gefühl, als Elternteil versagt zu haben und bei dem Kind das Gefühl, „nicht richtig zu sein.“ Das müsse nicht sein, wenn Eltern ihre Scham überwinden und sich rasch Hilfe holen.
Doch selbst, wenn alles erwartungsgemäß klappt, ist die große Liebe nicht von Anfang an da: „Auch bei den glücklichen Geburten reicht die anfängliche Verliebtheit nicht aus, die wirkliche Liebe muss erst noch wachsen. Liebe kann wachsen, wenn man einander kennenlernt, sich austauscht und sich achtet.”
Ähnlichkeiten erleichtern es Eltern, ihr Kind zu lieben
„Viele Eltern berichten, dass es nicht bei all ihren Kindern leicht war, sie kennenzulernen. Ein Kind, das ihnen ähnlich ist, macht es ihnen leichter. Bei schwierigen Kindern sind sie häufig zu ungeduldig und geben einander nicht die Chance, sich kennenzulernen”, erklärt die erfahrene Psychotherapeutin.
In einigen Familien gäbe es das „Goldkind“, das verwöhnt und verhätschelt wird. In Wirklichkeit sei das Anspruchsdenken dieser Kinder später einmal eine große Bürde. Geschwister seien häufig genervt von dem zickigen Verhalten des Lieblingskindes. Kinder, die die Ressourcen der Familie aufbrauchen, seien schnell bei den anderen unten durch.
Was sagt es über die Eltern aus, wenn sie ein Kind deutlich bevorzugen?
Brandi weiß, dass die Motive dahinter oft unbewusst egoistisch motiviert sind: „Wenn ich als Mama immer wieder feststelle, dass ein Kind mir besonders am Herzen liegt, bin ich vermutlich eher wenig daran interessiert mit meinen Kindern zu wachsen. Kinder, die uns herausfordern, sind unbequem aber eine große Hilfe für Eltern, sich selbst weiterzuentwickeln.”
Dabei sei es für das Familienleben wünschenswert, dass unterschiedliche Persönlichkeiten nicht nur geduldet, sondern gleichermaßen wichtig genommen werden. „Kinder bleiben nicht so, wie sie als Kleinkinder waren. Wie nahe man einander steht, wird sich öfter verschieben. Das ist auch gut so, wenn die Grundannahme als Basis geschaffen ist.”
Kinder wollen nicht gleich, sondern fair behandelt werden
„In meiner Praxis erlebe ich, dass Kinder meist ihre Stärken und Schwächen kennen und keinen Wert auf Gleichmacherei legen. Sie wissen, dass Gerechtigkeit nicht durch Gleichbehandlung entsteht. Sie beobachten aber genau, ob ein Familienmitglied durchgehend mehr Vorteile bekommt als das andere. Es lohnt sich für Eltern mit ihren Kindern immer wieder gemeinsam Lösungen zu suchen, in denen sich alle gesehen fühlen und wachsen können. Auch die Eltern.”
Vielen Dank an unsere Expertin, Frau Dr. Dagmar Brandi, für ihre fachliche Einordnung!
Dr. Dagmar Brandi ist Kinder- und Jugendärztin sowie Psychotherapeutin. Sie unterstützt Eltern außerdem mit entwicklungspsychologischen Beratungen und ist Teil der Babyambulanz „Von Anfang an”.