Gibt es wirklich immer mehr „Tyrannenkinder”? Was dahintersteckt!

Immer mal wieder ist die Rede davon, dass Kinder heute keine richtige Erziehung mehr kennen. Sie seien respektlos, von ihren Eltern nicht mehr zu kontrollieren und werden ganz sicher zu schrecklichen Erwachsenen. Dieses düstere Bild der „Tyrannenkinder”, die nicht nur ihre Eltern, sondern auch alle anderen Menschen tyrannisieren und ihnen auf der Nase herumtanzen würden, führt leider häufig dazu, dass viele sich darin bestärkt fühlen, Kindern mit mehr Autorität und Strenge zu begegnen.

In dem Zuge gerät dann häufig die bedürfnisorientierte Erziehung in Verruf. Doch ganz so einfach ist das nicht – denn je genauer man sich damit auseinandersetzt, desto komplexer ist das Phänomen „Tyrannenkind” (sollte es solche überhaupt geben). Ich habe mir deswegen Hilfe von Psychologin Claudia Schwarzlmüller geholt, um dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Als Diplom-Psychologin für Kinder und Jugendliche begleitet sie seit 20 Jahren Familien und Pädagogen.

Begriff „Tyrannenkind” von einem inzwischen angeklagten Kinderpsychiater geprägt

Was man zu dem Begriff unbedingt im Hinterkopf haben sollte: Maßgeblich geprägt wurde er Dr. med. Michael Winterhoff. Sein Bestseller „Warum unsere Kinder Tyrannen werden” traf in Deutschland einen Nerv und löste eine heftige Debatte aus. Seitdem war er in der Vergangenheit in verschiedenen Talkshows zu sehen, in denen er als hoch geschätzter Kinderpsychiater seine Meinung zum Besten gab.

Inzwischen wurden schwere Vorwürfe gegen ihn erhoben: Es geht um zweifelhafte Diagnosen und sedierende Medikamente. Was betroffene Kinder und ihre Eltern in einer Dokumentation berichten, macht fassungslos: Offenbar hat Winterhoff immer wieder Kinder, die eigentlich besonderer Fürsorge bedürft hätten, mit der Diagnose „frühkindlicher Narzissmus” abgefertigt. Oft in Zusammenhang mit einer angeblichen „Eltern-Kind-Symbiose“, die gelöst werden müsste.

Anklage wegen Körperverletzung

Die Betreuer von Heimkindern, die unter seiner Fürsorge standen, würden angewiesen, die Kinder nach einem „pädagogischen Programm” zu behandeln, das auf Strenge, Ignorieren oder Wegschicken beruhe. Wir haben bereits hier darüber geschrieben. Inzwischen wurde in 36 Fällen Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung gegen den Kinderpsychiater erhoben, wie die Tagesschau berichtet.

Doch das ändert nichts daran, dass seine Thesen immer noch nachhallen. So feierte auch die Wiener Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger mit ihrem Buch „Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden” Erfolge.

Zusammenhang mit „falsch verstandener” bedürfnisorientierter Erziehung

Unsere Expertin Claudia Schwarzlmüller erklärt: „Das ist alles so gar nicht neu, sondern war Jahrhunderte lang das herrschende Bild vom Kind. Im Mittelalter musste man dem Kind noch ‚den Teufel austreiben.‘ Das ist immer die autoritäre Strömung, die so etwas verbreitet, sozusagen der rechte Flügel der Erziehung. Klar, dass der auch in der Erziehung, wie leider weltweit, gerade wieder stärker wird.”

Also ist das alles gar nicht neu und hat auch nichts mit der bedürfnisorientierten Erziehung zu tun? „Ich sehe einen Zusammenhang zur falsch verstandenen bedürfnisorientierten Erziehung. Wir haben eine große Anzahl von zu Recht völlig erschöpften Eltern, die sich bis zur Selbstaufgabe um ihre Kinder kümmern und angestrengt versuchen, alles perfekt zu machen. Wenn man Bedürfnisorientierung so versteht, dass man jetzt alle Wünsche des Kindes erfüllen muss und sozusagen rund um die Uhr der Dienstleister des Kindes ist, dann kann man irgendwann nicht mehr. Sehr verständlich!”

Sie zieht einen direkten Zusammenhang zum Phänomen „Tyrannenkinder”:

„Man kann nur eine gewisse Zeitlang über seine eigenen Grenzen gehen, irgendwann kann man nicht mehr geduldig sein und schreit herum. Und kommt vielleicht als nächsten Schritt auf die Idee, ein ‚Tyrannenkind‘ zu haben”, erklärt die Psychologin.

Doch was steckt stattdessen dahinter, wenn Kinder scheinbar „außer Kontrolle geraten”? „Meiner Meinung nach gibt es zutiefst missverstandene Kinder. Es ist immer eine spannende Frage, warum ein Kind nicht kooperiert. Wieso kann es das gerade nicht? Da der Drang nach Kooperation so stark ist bei uns Menschen, einer kooperativ aufziehenden Art, muss man sich immer fragen, was dahintersteckt. Das ist eine spannende Detektivarbeit.”

Eltern fehle häufig die gesunde Balance in der Erziehung zwischen „Leiten und Folgen”

Aus ihrer eigenen beruflichen Erfahrung ist der Psychologin besonders ein Knackpunkt bekannt: „Was ich bei den Eltern, mit denen ich arbeite, sehr oft sehe ist, dass sie das Gleichgewicht aus ‚Leiten und Folgen‘ nicht umsetzen. Ja, man muss dem Kind bis zu einem bestimmten Grad in seinen Bedürfnissen folgen, das ist ganz wichtig.

Aber jedes Kind braucht auch eine ganz klare, positive Leitung im Leben und diese Rolle liegt eindeutig bei dem Erwachsenen. Es möchte nicht alle Wünsche erfüllt haben, aber dafür ein ganz tiefes menschliches Bedürfnis: Das nach Sicherheit und Orientierung. Eltern sollten das Gleichgewicht aus Leiten und Folgen in ihr Leben bringen, das Kind braucht dringend beides!”

Was können Eltern also tun, wenn sie das Gefühl haben, ihr Kind wird zum Tyrannen?

Als erstes empfiehlt Schwarzlmüller eine Bestandsaufnahme: „Eltern können prüfen, ob sie die Haltung umsetzen, dass sie die Leitung der Familie haben und alle Bedürfnisse, auch ihre eigenen, im Blick behalten. Das gelingt mal besser und mal schlechter, das ist ganz normal.”

Auch die Lebensumstände des Kindes könnten ein Auslöser sein: „Aber wenn das Kind nicht mehr kooperiert, dann ist es an der Zeit, genau hinzuschauen: Was ist los im Leben des Kindes? Hat sich an der Lebenssituation etwas verändert, beim Kind oder im Umfeld? Was passiert ganz praktisch im Detail in der schwierigen Situation? Kinder schauen nur auf die Details, oft kann man mit einer Kleinigkeit sehr viel erreichen.”

Weder Eltern noch Kind ist geholfen, wenn das Kind als „Tyrann” abgestempelt wird.

„Leider kann das Kind das noch nicht selbst analysieren und sagen: ‚Mama, Papa, mir fehlt das Folgende, um gut mit euch zusammenarbeiten zu können.‘ Das müssen wir machen. Gerne mit Unterstützung von außen, denn wenn man selbst in der Situation beteiligt ist, zieht man oft die falschen Schlüsse.

Das Kind zeigt nur das Symptom und beginnt, sich ‚schwierig‘ zu verhalten. Es dann als „Tyrannenkind“ zu bezeichnen, ist nicht zielführend, damit schaffe ich nur weitere Fronten zwischen mit und dem Kind, die niemandem weiterhelfen”, warnt Schwarzlmüller.

Sie schließt deshalb mit einem eindringlichen Rat an alle, die glauben, ein „Tyrannenkind” zu haben, dem sie mit Strenge begegnen müssen: „Hol dir Hilfe von außen, online bei mir oder offline in einer Erziehungsberatung, vielleicht ist es nur eine Kleinigkeit, die man verändern muss.”

Vielen Dank an unsere Expertin Claudia Schwarzlmüller!

Hat dir der Text gefallen und du möchtest noch mehr Tipps und Wissen von der Psychologin Claudia Schwarzlmüller? Dann schau dir unbedingt ihr neues Buch an!

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Lena Krause

Ich lebe mit meinem kleinen Hund Lasse in Hamburg und übe mich als Patentante (des süßesten kleinen Mädchens der Welt, versteht sich). Meine Freundinnen machen mir nämlich fleißig vor, wie das mit dem Mamasein funktioniert. Schon als Kind habe ich das Schreiben geliebt – und bei Echte Mamas darf ich mich dabei auch noch mit so einem schönen Thema befassen. Das passt einfach!

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Patricia
Patricia
5 Tage zuvor

Der Text enthält gute Ansätze, aber ist mir zu abstrakt. Es gibt keine konkreten Beispiele oder Handlungsanweisungen, was versteht man unter „positiver Leitung“? Oder unter „Leiten und Folgen“? Dass man nicht alles perfekt machen muss als Eltern finde ich schon fast widersprüchlich zu dieser Haltung bzw dem Anspruch, dass man „die Balance halten soll“. Wie sieht das konkret aus, wo sind die Grenzen?