Elternzeit „nicht vorgesehen“ – wieso denn eigentlich nicht, Christian Lindner?

MEINUNG – Kann-nicht wohnt in der Will-nicht-Straße. Sorry für diese abgedroschene Floskel – aber ich finde, sie passt so gut zum Fall von Christian Lindner und seiner Ankündigung, keine Elternzeit zu nehmen, da dies in seinem Job „nicht vorgesehen“ sei. Genau das hat der FDP-Chef und Ex-Bundesfinanzminister, dessen Ehefrau Franca Lehfeldt schwanger ist, gerade aufmerksamkeitswirksam kundgetan – und zwar in einem Interview mit BUNTE. Dort wurde gleichzeitig seine Aussage, Familie ist das Wichtigste und hat Priorität, in die Überschrift gepackt. Ach so. Na, ganz so wichtig kann sie dann ja doch nicht sein. Er würde sich statt Elternzeit andere „Freiräume nehmen“ , kündigt Lindner dort an – was auch immer das am Ende bedeuten mag.

Aber hinterfragen wir das doch erstmal ganz sachlich.

Können PolitikerInnen in Deutschland tatsächlich nicht in Elternzeit gehen?

Richtig ist: Es gibt für PolitikerInnen in Deutschland keine offizielle Elternzeit-Regelung (1). Allerdings: Im Landesparlament von Baden-Württemberg wurden schon vor über 10 Jahren Regelungen eingeführt, die es Abgeordneten ermöglichen, bis zu sechs Monate nach der Geburt eines Kindes von Sitzungen freigestellt zu werden (2). Bereits damals forderte Katja Kipping (LINKE), auch für den Bundestag über solche Regeln nachzudenken.

Was ist seitdem passiert?

Nichts. Stand heute gibt es für Abgeordnete des Bundestages in der Tat keine Möglichkeit in Elternzeit zu gehen – sie haben weder Anspruch auf Elternzeit noch auf Elterngeld (was im Hinblick aufs Elterngeld und die Diäten ja eventuell auch ganz fair ist).  (3)

Warum ist das so? Begründung: Das Bundestags-Mandat wird als verfassungsrechtliche Pflicht angesehen, die man annehmen oder ablehnen kann, und bei der es keine Zwischenlösungen gibt (4).

Immerhin gibt es Regelungen, die Bundestagsabgeordneten mit Kindern entgegenkommen.

Und zwar dürfen Abgeordnete unentschuldigt fehlen, ohne dass ihre Kostenpauschale gekürzt würde – beispielsweise, weil ein Kinder unter 14 Jahren erkrankt ist. Vielleicht ist es das, was Christian Lindner meint, wenn er von „Freiräume nehmen“ spricht? Außerdem gibt es im Bundestag Spiel-, Still- und Wickelzimmer sowie Eltern-Kind-Büros (5).

Wenigstens etwas.

Trotzdem bleibt die Frage: Wieso PolitikerInnen immer noch keine Elternzeit nehmen können?

Wieso sind wir hierzulande so rückständig, was das betrifft? Und hätten gerade mächtige Männer wie Christian Lindner nicht das Zeug dazu, das zu ändern? Doch, durchaus.

Wir zählen hier mal auf, was im Groben passieren müsste, um PolitikerInnen Elternzeit zu ermöglichen:

  1. Das Grundgesetz müsste angepasst werden, vor allem Artikel 38, der das freie Mandat der Abgeordneten regelt (6). Dazu wäre eine Zweidrittelmehrheit des Bundestags und Bundesrats erforderlich.
  2. Ebenso bedürfte es Änderungen beim Abgeordnetengesetz (AbgG) (v.a. die Regelung zur Mandatsausübung während der Elternzeit)
  3. Das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) müsste den Geltungsbereich auf Abgeordnete erweitern.
  4. Innerhalb der Geschäftsordnung des Bundestags müssten Vertretungsregelungen geschaffen und Änderungen bei Abstimmungsverfahren und Präsenzpflichten vorgenommen werden.

Das wäre vielleicht kein Spaziergang – aber auch nicht unmöglich. Und damit sind wir wieder bei meiner Einstiegsfloskel angekommen: Es geht nicht ums „nicht können“, sondern ums „nicht wollen“. So lange das so bleibt und selbst in den obersten Etagen unseres Landes nicht geändert wird, so lange Elternzeit für Väter nicht zur Selbstverständlichkeit wird und die Hauptlast der Care-Arbeit immer bei den Frauen bleibt… so lange werden wir nie echte Gleichberechtigung erleben, wird die Geburtenrate in Deutschland weiter vor sich hinsinken und wir werden viele weitere, daraus resultierende, gesellschaftliche Probleme nicht lösen.

Schade, lieber Christian Lindner – Sie vergeben eine einmalige Chance.

Dabei hätten Sie im anstehenden Wahlkampf ein Momentum schaffen können: Das wäre doch Ihre Chance gewesen, sich familienpolitisch in Szene zu setzen, indem Sie sich für diese längst überfälligen Änderungen einsetzen und als gutes Vorbild vorangehen.

Aber nein, Sie zucken lieber mit den Schultern und berufen sich darauf, Elternzeit sei nunmal „nicht vorgesehen“. Das finden wir wirklich schade. Vor allem von einem Politiker einer Partei, die sich gern als Vorkämpfer in Sachen Innovation und Fortschritt stilisiert.

Am Ende steht Ihre Haltung sinnbildlich für ein Deutschland, das in letzter Zeit in so vielen Bereichen hinterherhinkt.

Quellen zu diesem Artikel:

(1) https://www.sueddeutsche.de/politik/gruene-elternzeit-minister-1.5339700 – abgerufen am 12.12.2024
(2) https://www.welt.de/politik/deutschland/article134721573/Politiker-aus-allen-Fraktionen-fordern-Elternzeit.html
(3) https://www.bundestag.de/resource/blob/893022/3402cae6f825fee117572826c06cdcbc/WD-9-012-22-pdf-data.pdf
(4) https://www.spiegel.de/karriere/madeleine-henfling-warum-abgeordnete-keine-elternzeit-nehmen-duerfen-a-1225892.html
(5) https://www.bundestag.de/resource/blob/1001516/bc6fc9ea0457c6889b965e2b209807b0/WD-8-009-24-pdf.pdf
(6) https://www.spiegel.de/karriere/madeleine-henfling-warum-abgeordnete-keine-elternzeit-nehmen-duerfen-a-1225892.html

Ilona Utzig

Ich bin Rheinländerin, lebe aber seit vielen Jahren im Hamburger Exil. Mit meiner Tochter wage ich gerade spannende Expeditionen ins Teenager-Reich, immer mit ausreichend Humor im Gepäck. Wenn mein Geduldsfaden doch mal reißt, halte ich mich am liebsten in Küstennähe auf, je weiter nördlich, desto besser.

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