Ich bin als Einzelkind aufgewachsen und hatte eine wirklich schöne Kindheit. Mit der kompletten Liebe und Aufmerksamkeit meiner Eltern, eigenem Zimmer, Spielzeug, das ich nicht teilen musste und vielen anderen Vorteilen, die man als einzige Tochter hat. Und trotzdem habe ich eines oft vermisst, und tue das teilweise heute noch: einen Bruder oder eine Schwester.
Klischees über Einzelkinder: alles Quatsch
Einzelkinder sind verwöhnt, egoistisch, können nicht teilen und so weiter und so fort. Keine Ahnung, wie oft ich die ganze Palette an Vorurteilen gehört oder gelesen habe. Mindestens genauso oft die Frage „Wie, Du bist Einzelkind?“, begleitet entweder von einem mitleidigen Blick oder einem überraschten Unterton, weil eben doch nicht immer alle Klischées zutreffen. Für mich ist das alles vor allem eins: völliger Quatsch. Denn wie man ist oder sich verhält, hängt aus meiner Sicht nicht davon ab, ob man Geschwister hat, sondern wie man erzogen wird.
Mir ging es auch ohne Geschwister super. ABER:
Ich möchte auch nicht, dass hier ein falsches Bild entsteht: Es ist nicht so, dass ich jahrelang traurig darüber war, dass ich keine Geschwister habe. Aber trotzdem habe ich ab und zu darüber nachgedacht, wie es wohl wäre mit einem großen Bruder oder einer kleinen Schwester (oder umgekehrt). Die meisten meiner Freunde/innen waren keine Einzelkinder. Einige waren genervt, wenn sie die Kleineren immer und überall hin mitschleppen mussten. Aber mit der Zeit hat sich das gegeben, und eigentlich haben sich fast alle irgendwann gut mit ihren Geschwistern verstanden.
Und ich hätte oft einfach auch gern jemanden gehabt, mit dem man zuhause so richtig Quatsch machen, sich gegen die Eltern verbünden oder sich eben auch mal zoffen kann. Der mit in den Urlaub fährt, mit dem man nachmittags (oder später auch abends) losziehen kann, mit dem man seinen ersten Liebeskummer teilt, und bei dem man weiß, man kann sich immer auf ihn verlassen, wenn es darauf ankommt – ganz egal, wie blöd man sich auch zwischendurch mal findet. Jetzt könnte man denken, dass das bei guten Freunden ja auch so ist. Stimmt – trotzdem glaube ich, es ist nicht das Gleiche.
Ein Stück Verantwortung abgeben
Aber nicht nur als Kind oder Jugendliche hat mich der Gedanke an Geschwister manchmal gepackt. Auch als Erwachsene gab und gibt es Momente und Situationen, in denen ich mir wünschen würde, dass da noch jemand ist. Als mein Papa krank wurde, hatte ich zum Beispiel oft den Gedanken, dass es schön wäre, Gedanken und Ängste mit jemandem zu teilen, der in der gleiche Situation ist bzw. genau nachempfinden kann, was in mir vorgeht. Na klar war meine Mama da, aber erstens stand sie in dieser Zeit selbst komplett neben sich, zweitens ist es ein Unterschied, ob Partner oder Papa betroffen sind, und drittens wollte ich sie nicht auch noch ständig mit meinen Ängsten belatschern.
Als mein Papa dann starb, wurde der Gedanke noch stärker. Denn irgendwie hat sich das Verhältnis zwischen meiner Mama und mir ein bisschen umgedreht. Und obwohl diese Zeit uns noch enger zusammengeschweißt hat, hätte ich mir manchmal gewünscht, dass es noch jemanden gibt, der sie unterstützen kann.
Entscheidungen und Erinnerungen teilen
Anfang des Jahres war er dann da. Der Moment, vor dem ich schon so lange Angst hatte, und den ich immer versucht habe, auszublenden. Meine Mama wurde krank und ist letztendlich trotzdem überraschend gestorben. Schon während der kurzen Zeit im Krankenhaus hätte ich mir gewünscht, nicht allein entscheiden zu müssen. Zum Glück hatte meine Mama die wichtigsten Dinge vorher schon selbst festgelegt. Neben all meiner Trauer gab es auch einen gefühlten Berg an Dingen zu erledigen. Und ich bin dankbar für die Unterstützung, die ich bekommen habe.
Aber manche Entscheidungen und Aufgaben kann einem eben doch niemand abnehmen. Und genau das war der Moment, in dem ich wieder dachte, wie schön es wäre, einen Bruder oder eine Schwester zu haben. Der/die genau in derselben Situation ist, mit dem/der man sich Entscheidungen und Verantwortung teilen kann.
Niemand sonst kann die Erinnerungen weitergeben
Und auch wenn es vielleicht komisch klingt, weil ich eine tolle Familie habe: Manchmal ist es einfach da, das Gefühl, allein mit einigen Dingen zu sein. Es gibt niemanden, der meine Eltern so kennt wie ich. Niemanden, der sie im Alltag so erlebt hat. Niemanden, der weiß, wie sie zuhause waren, was für unglaublich tolle Menschen. Niemandem, mit dem ich die Erinnerungen aus der Kindheit teilen kann, weil er/sie dabei war. Und es bleibt das Gefühl, dass ich die einzige und letzte aus der „Sippe“ bin, und dass niemand sonst diese speziellen Erinnerungen an meine Eltern weitergeben kann. Und das finde ich wirklich traurig.
Meine Tochter sollte kein Einzelkind bleiben
Als meine Tochter zur Welt kam, war für mich klar, dass ich nicht möchte, dass sie auch „allein“ bleibt. Der Gedanke, dass es ihr irgendwann genauso geht wie mir, dass sie irgendwann ohne ihren Papa und ohne mich dasteht, sich um alles allein kümmern und sehen muss, wie sie klar kommt – nee. Und sie hätte (Status jetzt) dann eben auch keine tolle Cousine, keinen Cousin, keine Tante.
Ich habe mir gewünscht, dass sie mit einem Geschwisterchen aufwächst. Dass sie genau das bekommt, was mir manchmal so gefehlt hat. Jemanden zum gemeinsam Spielen, Streiten, Verbünden, Quatsch machen und vieles mehr.
Bei unseren beiden geht mir das Herz auf
Wenn ich meine Beiden heute so anschaue, bin ich unglaublich froh. Ich sehe, wie sie allmählich anfangen, sich miteinander zu beschäftigen. Wie der Kleine strahlt, wenn er seine große Schwester sieht. Wie die Große den kleinen Bruder in den Arm nimmt und ihm über den Kopf streichelt, wenn er mal weint. Wie sie Türme aus Lego baut, damit er sie umwerfen kann – und sich dann über sein strahlendes Gesicht freut. Wie sie in der Kita sofort klarstellt, dass das IHR Bruder ist, sobald ein anderes Kind ihm zu nahe kommt.
Ich weiß, das wird nicht immer so bleiben. Sie werden sich fetzen, sich auf die Nerven gehen, und uns gemeinsam in den Wahnsinn treiben. Aber ich bin mir sicher, wenn es hart auf hart kommt, dann werden sie zusammenhalten und füreinander da sein. Wie das Geschwister eben machen. Und dafür bin ich schon jetzt sehr dankbar.
Dieser Artikel ist zuerst auf dem Blog wiebkes-welt.de unserer Kollegin Wiebke erschienen.