Ich stehe am Fenster und sehe sie fröhlich hopsend um die Ecke biegen. Meine fünfjährige Tochter ist auf dem Weg zu ihrer besten Freundin. Wir sind den Weg in diesem Leben sicher schon hundert Mal zusammen gegangen. Es sind nur 300 Meter die Sackgasse runter und man muss nicht einmal die Straße überqueren. Trotzdem kribbelt es in meinem Bauch. Meine kleine Tochter, allein unterwegs!
Ich schätze mich nicht unbedingt als Helikoptermama ein, aber eine Glucke bin ich schon. Deshalb fällt es mir immer schwer, sie mal für eine Zeit nicht persönlich zu beschützen. Selbst in unserer verkehrsberuhigten Wohngegend, die ihr vollkommen vertraut ist, wo sie gefühlt jeden zweiten Nachbarn persönlich kennt und wo sie jederzeit Hilfe bekommen würde, wenn mal was wäre.
Dabei ist dieses wohldosierte Loslassen gerade im Vorschulalter so wichtig, sowohl beim Spielen als auch in Form von kleinen Aufgaben, die unsere Kinder allein und selbständig erledigen. Natürlich erst einmal in einem festgesteckten Rahmen und immer abhängig von Kind und Umgebung. Würden wir in einer großen Stadt an einer vielbefahrenen Straße wohnen, würde ich sie natürlich nicht allein losziehen lassen. Doch auch in Städten gibt es ja geschützte Räume, in denen sich Kinder frei bewegen können, so wie dieser Abenteuerspielplatz in der Hamburger Sternschanze. „Riskantes“ Spielen Level 1, sozusagen.
Nichts ist lehrreicher als eigene Erfahrungen
Was passiert, wenn wir unsere Kinder in solch einem Rahmen „sich selbst überlassen“, ganz ohne die schützenden Arme und motivierenden Zurufe von Mama und Papa? Ganz einfach: Sie wachsen! Sie wachsen über sich selbst hinaus. Denn nun müssen sie für sich selbst Verantwortung übernehmen, ihre Kräfte und Fähigkeiten richtig einschätzen, und Ängste oder Unsicherheiten überwinden.
Schaffe ich es bis ganz nach oben auf die Kletterburg – und auch wieder herunter?
Traue ich mich, bei der Verkäuferin in der Bäckerei um die Ecke ein Brot zu kaufen?
Finde ich den kurzen Weg zu meiner Freundin auch ganz allein?
Und was mache ich, wenn es nicht klappt?
Befinden sich unsere großgewordenen Kleinen in solchen an sich harmlosen, für sie jedoch abenteuerlichen Situationen, entwickeln sie automatisch eine eigene Risikokompetenz, während gleichzeitig Selbständigkeit und Selbstvertrauen wachsen.
Nichts ist in dieser Hinsicht so wirksam wie die eigene Erfahrung. Da können wir als Eltern noch so viel erzählen, warnen, ermuntern oder loben. Wenn wir wollen, dass unsere Kinder fit für das Leben werden, müssen wir ihnen solche Erlebnisse und Herausforderungen, ein Spielen zu ermöglichen, bei dem sie auch scheitern können. Oder sich sogar ein wenig weh tun. Auch wenn es für eine Glucke wie mich verdammt schwierig ist.
Eltern, haltet euch beim Spielen raus!
Zudem bin ich nicht nur eine Glucke, sondern auch noch total harmoniebedürftig. Nicht selten kam es deshalb vor, dass ich versucht habe, Streitigkeiten zwischen meiner Tochter und ihren Spielfreundinnen wie eine Diplomatin zu schlichten. Mit dem Ergebnis, dass sie im Minutentakt abwechselnd zu mir kamen, um sich über irgendwelche Ungerechtigkeiten zu beschweren.
Als ich es irgendwann einmal schaffte, einfach die Klappe zu halten und mich rauszuhalten, spielten sie nach dem ersten Streit harmonischer denn je. Sie diskutierten es kurz aus, fanden einen Kompromiss und das Thema war vergessen.
Dieses Beispiel lässt sich auf so viele Situationen übertragen. Die Einsicht ist immer diese: Kinder können sich gegenseitig so viel beibringen, sie brauchen uns Erwachsene dazu nicht. Je mehr Freiraum wir ihnen lassen, desto eher und besser lernen sie, Verantwortung zu übernehmen. Nicht nur für sich selbst, auch für die Freunde.
Und was für das Kinderzimmer gilt, zählt natürlich auch für das Spielen im Freien. Loslassen ist auch hier meine neue Devise. So begleite ich meine Tochter nicht mehr in den Gemeinschaftsgarten, wenn sie sich da mit dem Nachbarjungen verabredet hat. Vielleicht schaue ich mal heimlich zum Fenster raus, um zu sehen, was die beiden so machen, aber ich mische mich nicht mehr ein.
Freies und „riskantes“ Spielen macht Kinder stark für das Leben
Wie wichtig dieses „kindgetriebene Spiel“ ist, bei dem die Eltern keine oder nur eine passive Rolle spielen, bestätigen sogar Studien. Demnach brauchen Kinder diese Form des „riskanten Spiels“ für eine gesunde physische und mentale Entwicklung und Resilienz. Spielen Kinder unter sich, sind sie körperlich aktiver, was einen unmittelbaren Effekt auf ihre Gesundheit hat. Im freien Spiel ohne Erwachsene entwickeln Kinder zudem mehr Kreativität, Führungskompetenz und soziale Fähigkeiten.
Natürlich gibt es auch mal Tränen, wenn die Kids unter sich spielen. Sei es wegen einer Streiterei oder sogar Rauferei, oder wegen einer Schürfwunde, weil der Kletterbaum doch zu rutschig war oder das Bremsen mit den Rollschuhen noch nicht so gut klappt. Doch diese Risiken gehören dazu, so sehr wir unsere Schätze auch davor beschützen möchten. Kinder lernen dabei, ihre Wut oder ihren Schmerz auch wieder zu überwinden, motiviert von der Aussicht, das unterbrochene Spiel fortzuführen, das ihnen so viel Spaß macht.
Egal was unsere Lieben also im freien Spiel ohne Erwachsene spielen, sie lernen dabei fürs Leben! Schließlich bringt auch dieses immer wieder Enttäuschungen, Verletzungen und Misserfolge mit sich. Und wie sollen sich unsere Lieben darauf vorbereiten, wenn sie nicht schon mal in einem geschützten Rahmen damit Erfahrungen machen?
Von uns Eltern brauchen sie dafür nichts weiter als unser Vertrauen in ihre Kompetenz („Du schaffst das schon!“) und vielleicht mal eine starke Schulter zum Trösten und ein Pflaster für das Knie.