Immer wieder liest man von Babys, die nach ihrer Geburt einfach irgendwo abgelegt werden. Ganz klar, der erste Gedanke, der einem durch den Kopf schießt, ist: Was ist denn das bloß für eine schreckliche Frau, die ihr eigenes Baby ausgesetzt hat – und dabei sogar in Kauf nimmt, dass es Schaden nimmt oder gar stirbt?
Diese Wut im Bauch ist sicher die gängige Reaktion, wenn man solche Nachrichten liest. Total verständlich. Und doch, irgendwie flüstert einem der Verstand leise zu, dass es für diese Taten einen Grund geben muss. Dass ein Schicksal dahintersteckt, über das wir uns kein Urteil erlauben können.
Unsere Echte Mama Sabine hat Soziale Arbeit studiert und gerade ihre Thesis über genau dieses Thema geschrieben. Dafür hat sie sich ausführlich mit den Geschichten hinter den schockierenden Meldungen befasst.
Wir freuen uns riesig darüber, dass wir Sabine einige Fragen zum Thema stellen durften:
Liebe Sabine, wie viele Babys werden denn in Deutschland überhaupt ausgesetzt?
Dazu gibt es tatsächlich nur eine inoffizielle Statistik, geführt vom Kinderhilfswerk „terre des hommes“. Ihre Zahlen stammen aus der polizeilichen Kriminalstatistik, Medienberichten, anderen Einrichtungen (z. B. dem SterniPark in Hamburg, der die erste Babyklappe in Deutschland eröffnete) und aus eigenen Netz- und Medienrecherchen.
In diesem Jahr wurden bereits 10 Neugeborene ausgesetzt, wovon drei Kinder überlebten. In den Jahren davor schwankten die Zahlen: 2018 etwa wurden 12 Neugeborene ausgesetzt, davon überlebten vier Kinder – und 2015 beispielsweise wurden 27 Neugeborene ausgesetzt. Im Jahr 2003 war die Anzahl der Kindesaussetzungen am höchsten: 55 Kinder wurden ausgesetzt, wovon nur 15 Kinder überlebten.
Wichtig: Bei diesen Zahlen wurden nicht die Kinder erfasst, die anonym übergeben, in eine Babyklappe gelegt oder anonym geboren wurden.
Sag mal, kann man denn überhaupt zusammenfassend sagen, warum eine Frau ihr Baby aussetzt?
Für eine Kindesaussetzung oder einen sogenannten Neonatizid (so nennt man es, wenn die Mutter ihr Kind innerhalb von 24 Stunden nach der Geburt tötet) kann es natürlich mehrere Gründe geben.
Manche Frauen planen tatsächlich die Tötung ihres Kindes. Anderen ist ihre Schwangerschaft gleichgültig und sie ignorieren sie komplett. Die Schwangerschaft wird dabei in der Regel nicht wirklich um jeden Preis verheimlicht, allerdings werden bei Nachfragen andere Ursachen für den wachsenden Bauch- bzw. Körperumfang gesucht, z. B. Krankheit, zu viel gegessen zu haben oder Wassereinlagerungen.
Es gibt auch krankheitswertige Störungen. Diese sind meistens vorübergehend und werden durch die Geburt, die Hormonumstellung und die seelischen Prozesse ausgelöst. Der bekannte „Baby-Blues“ kann in eine postnatale Depression übergehen und (im schlimmsten Fall!) zu Selbstmord oder einem erweitertem Selbstmord (die Frau tötet ihr Kind und dann sich selbst) führen.
Die Wochenbettpsychose ist noch sehr viel schwerwiegender, tritt jedoch sehr selten auf. Sie kann einige Tage oder sogar Wochen nach der Entbindung auftreten und einige Wochen anhalten. Manche Frauen finden aus dieser Krankheit allerdings gar nicht mehr heraus und bleiben psychotisch. Die Psychose äußert sich in Wahnvorstellungen, Halluzinationen und Stimmenhören. Diese befehlen z. B. der Mutter, das Kind zu töten.
Ein weiterer Aspekt ist die „negierte Schwangerschaft“. Dabei bleibt diese bis zur Entbindung unbemerkt. Das passiert meist, wenn die Mutter eine eher in sich gekehrte Persönlichkeit ist, die sich gerade in einer extremen Belastungssituation befindet. Diese Frauen neigen dazu, Probleme in sich „hineinzufressen“ und mit sich selbst auszumachen. Zu den genannten Punkten kommen dann häufig eine wenig ausgeprägte Körperwahrnehmung und das Fehlen bzw. die Fehlinterpretation von klassischen Schwangerschaftssymptomen hinzu.
Aber um deine Frage zusammenfassend zu beantworten: Die Frauen befinden sich in einer Notsituation, die ihnen ausweglos erscheint. Sie verheimlichen oder verdrängen ihre Schwangerschaft, weil sie die Frist eines möglichen Schwangerschaftsabbruchs verpasst haben oder treiben aus moralischen Gründen nicht ab. Durch die Veränderungen, die eine Schwangerschaft mit sich bringt, fühlen sie sich überfordert, schaffen es nicht, vorhandene Hilfsmöglichkeiten (Schwangerschaftsberatung etc.) anzunehmen und können oder wollen sich niemandem anvertrauen. Letztlich verfügen sie über keine ausreichende Problemlösungsstrategie.
Ist eine Frau, die ihr Baby aussetzt, psychisch krank? Oder könnte es quasi jedem von uns passieren?
Die Frauen können auch psychisch krank sein. Eine psychisch erkrankte Schwangere, etwa wenn sie depressiv, psychotisch oder drogenabhängig ist, wird ihre Schwangerschaft anders erleben als eine gesunde Frau. So eine Krankheit hat ja oft schon Auswirkungen auf die Partnerwahl und die Beziehungsfähigkeit. Eine Frau, die als Kind Vernachlässigung und Missbrauch erlebt hat, wünscht sich oft eine Beziehung und ein Kind, um endlich Liebe zu erfahren, und spürt ihre Überforderung erst später. Auch durch Gewalterfahrung traumatisierte Frauen können durch den Schmerz der Geburt retraumatisiert werden und im Affekt ihrem Neugeborenen schaden.
Und ja, es könnte quasi jedem von uns passieren.
Verheimlichen die Frauen vorher ihre Schwangerschaft, damit nichts auffällt?
Ja, viele Frauen verheimlichen ihre Schwangerschaft. Dieses Phänomen wird schon seit Jahrhunderten beschrieben und man trifft es interessanterweise auch bei Frauen, welche bereits Kinder haben. So ist in einigen Fällen zu beobachten, dass die körperlichen und physiologischen Veränderungen nicht so deutlich sichtbar auftreten. Die Kinder dieser Frauen haben trotzdem eine normale Größe und ein normales Gewicht. Die Schwangerschaftszeichen können so diskret sein, dass sie von der Umwelt gar nicht wahrgenommen werden.
Passiert das Aussetzen in der Regel geplant oder im Affekt nach der Geburt?
Wie gesagt, es gibt beide Fälle. Es kann beispielsweise auch vorkommen, dass das Kind tot zur Welt kommt, wie folgender Fall zeigt: Ein neugeborener Junge wurde in einem Park tot aufgefunden. Die Polizei erhält während der Ermittlungen das anonyme Schreiben einer Frau, welche sich als Mutter des Kindes bezeichnet: „Ich wollte für x eine bessere Zukunft. Er sollte in die Babyklappe, ich hatte schon eine Tasche und einen Brief fertig. (…) Aber dann ging alles schief. (…) Wäre ich nicht in Ohnmacht gefallen, würde er noch leben.“. Es stellte sich heraus, dass sie ihr Kind allein zuhause zur Welt bringen wollte. Doch die Geburt ging nicht voran und muss sehr lang gedauert haben, sodass man dem Jungen die Strapazen im Nachhinein ansah und er mitgenommen wirkte. Das Kind blieb im Geburtskanal stecken, da die Mutter vermutlich zwischenzeitlich keine oder zu schwache Wehen hatte. In Krankenhäusern wäre man auf derartige Notsituationen natürlich vorbereitet. Nachdem das Kind auf der Welt war, schlief die Mutter vor Erschöpfung ein und als sie wieder zu sich kam, war ihr Sohn tot. Sie hätte nichts für ihn tun können, selbst wenn sie wach geblieben wäre. Der Junge atmete während des Geburtsvorgangs große Mengen Fruchtwasser ein, weshalb er dabei verstarb. Daraufhin brachte sie ihr Kind in den Park, in dem er später gefunden wurde.
Warum nutzen manche Frauen die Chance einer Babyklappe o.ä. – und andere legen ihr Baby in einem kalten Hauseingang ab?
Wie die Frau in der jeweiligen Situation reagiert, ist immer abhängig von den Gegebenheiten. Manche Frauen oder auch Paare machen sich im Vorfeld Gedanken darum, was mit dem Kind passieren soll. Entweder sie geben es regulär zur Adoption frei oder sie bringen ihr Kind ohne medizinische Versorgung zuhause auf die Welt und legen es anschließend in eine Babyklappe. Die Alternative ist die anonyme bzw. vertrauliche Geburt. Da bringt die Frau das Kind im Krankenhaus zur Welt und hinterlässt das Kind im Krankenhaus. Nach der Geburt geht sie ohne ihr Kind nach Hause.
Für manche Frauen sind eine Babyklappe oder ein Krankenhaus auch nicht erreichbar, wenn sie etwa in einer sehr ländlichen Region leben oder keinen Führerschein bzw. Auto haben. Daher kann man die Frage leider nicht pauschal beantworten.
Welche Strafen erwarten Frauen, die ihr Kind aussetzen?
Durch die Möglichkeit zur anonymen Geburt und den Betrieb von Babyklappen werden strafbare Handlungen vorgenommen, wenn eine Mama ihr Baby aussetzt. Da die Frauen ihre Kinder anonym hinterlassen und selten ihr Kind zurückfordern, können die Frauen aber strafrechtlich in der Regel nicht bzw. sehr schlecht verfolgt werden.
Gibt es auch Frauen, die ihre Tat total „kalt lässt“?
Da die Frauen anonym sind und es vermutlich für den Rest ihres Lebens auch bleiben, kann man nicht wissen, wie es ihnen nach der Kindesabgabe bzw. -tötung ergeht. Wenn man aber an den Fall der Sabine H. denkt, die zwischen 1988 und 1998 neun Babys nach der Geburt hat sterben lassen und die kleinen Körper in Eimer, Töpfe, eine Babywanne, ein Aquarium und einen Weidenkorb legte, um darauf Blumen, Kräuter und Tomaten zu pflanzen, kann man mutmaßen, dass Sabine H. die Tat kalt gelassen hat, da sie immer wieder so handelte. Nur durch Zufall wurden die Babyleichen hier entdeckt.
Passiert es, dass eine Frau ihre Tat bereut und hat sie Chancen, ihr Baby doch noch zu sich zu nehmen?
Hierbei besteht ein großes Problem: Die Betreiber von Babyklappen und anonymen Geburten suggerieren den abgebenden Frauen eine sog. Acht-Wochen-Frist. Solange haben sie Zeit, ihr Kind zurückzufordern. Kommt die Mutter erst nach Ablauf dieser Frist, wird ihr Kind automatisch zur Adoption freigegeben.
Diese Information wird an die abgebenden Mütter bzw. Eltern gegeben, allerdings ist diese falsch! Diese Acht-Wochen-Frist gibt es im deutschen Recht nicht. Die Betreiber haben die Inhalte aus dem Pflegekinderwesen und dem Adoptionswesen zusammengefasst und zu einer „Ausschlussfrist“ umdefiniert. Die Frauen wissen dies natürlich nicht, sodass sie bewusst eine Falschinformation bekommen und ihnen somit die Chance genommen wird, ihr Recht einzufordern.
Richtig ist in Wahrheit, dass die Mutter, sofern sie mehr als acht Wochen Bedenkzeit benötigt, ihr diese nach dem Adoptionsrecht zusteht, um die richtige Entscheidung für sich zu treffen.Währenddessen darf sie ihr Kind sehen und zurückfordern. Durch das Jugendamt wird geprüft, ob sie tatsächlich die Mutter des Kindes ist. Außerdem wird geprüft, ob sie in der Lage ist, für das Kind zu sorgen oder ob eine weitere Betreuung und Kontrolle zur Sicherheit des Kindes oder eine psychologische bzw. psychiatrische Begutachtung der Mutter notwendig ist. Die leibliche Mutter hat solange Zeit, sich zu entscheiden, bis das Gericht nach ca. einem Jahr die Einwilligung der Eltern ersetzt.
Du hast dich mit diesem Thema ausführlich beschäftigt – was ist dein Fazit zu den Angeboten für Schwangere in Not? Was können sie am besten tun?
Die anonyme Geburt und die Babyklappe sind meiner Meinung nach keine Hilfsangebote für schwangere Frauen in extremer Not, denn nach wie vor werden Kinder ausgesetzt oder getötet.
Ich denke, die Babyklappe und die anonyme Geburt stellen vielmehr eine Versuchung dar, ein Kind ohne Risiko schnell los zu werden. Die Angebote sind für die Frauen, für die sie gedacht sind, nicht erreichbar. Für die, die sie nutzen, wäre in der Regel andere Hilfe denkbar und passender.
Die negativen Folgen für die Frau können durch etablierte Hilfsangebote verhindert werden. In Anbetracht der fehlenden Verankerung im deutschen Recht und der Möglichkeit des Missbrauchs birgt die anonyme Kindesabgabe mehr Gefahren als Hilfen, denn nur in einzelnen Fällen werden Leben wirklich gerettet. Dem Staat wird zudem jegliche Kontrollmöglichkeit entzogen. Das bedeutet zum einen eine Gefährdung des Kindesschutz und zum anderen können Straftaten vertuscht werden.
Es ist klar, dass die anonyme Übergabe, die Babyklappe und die anonyme Geburt so wie es bisher betrieben wurde, keine Dauerlösung ist. Es muss eine bundesweit einheitliche Lösung geschaffen werden, die eine legale Alternative zu den bisherigen Formen darstellt. Dem Gesetzgeber ist mit dem Gesetz zum Ausbau der Hilfen für Schwangere und zur Regelung der vertraulichen Geburt gelungen, diese längst fällige gesetzliche Grundlage zu schaffen. Durch die vertrauliche Geburt gibt es eine sichere Variante, die Mutter und Kind später die Möglichkeit gibt, Kontakt aufzunehmen und voneinander zu wissen.
Sucht man im Internet nach Informationen über die vertrauliche Geburt, gelangt man schnell auf die Seite www.geburt-vertraulich.de . Dort ist deutlich sichtbar die Telefonnummer eines Hilfetelefons für Schwangere in Konflikt- bzw. Notlagen niedergeschrieben. Das Hilfetelefon dient somit als erste Anlaufstelle für hilfesuchende Mütter. Die Berater sind qualifizierte Fachkräfte, welche 24 Stunden am Tag erreichbar sind. Ihre anonyme Beratung ist kostenlos und erscheint nicht auf dem Einzelverbindungsnachweis der Telefonrechnung. Somit haben die Frauen eine wirklich gute Möglichkeit, schnell, unkompliziert und anonym an Hilfe zu kommen.
Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur vertraulichen Geburt ein Instrument geschaffen, dass es Frauen in Not ermöglicht, Hilfe zu bekommen und ihr Kind in einem geschützten Rahmen medizinisch gut versorgt zur Welt zu bringen. Dadurch sind die Angebote zur anonymen Geburt und die Babyklappen überflüssig geworden. Leider hat der Gesetzgeber bis dato nicht den Mut, diese Angebote zu verbieten.
Liebe Sabine, wir danken dir ganz herzlich für diesen Einblick!
Ich wusste gar nicht, dass das Aussetzten von Kindern noch so Aktuell ist. Es ist total Schlimm, dass so viele Kinder es gar nicht überlebt haben. Ich kann nachvollziehen, wenn Mütter ihre Kinder nicht wollen bzw. es nicht schaffen sich, um das Kind zu kümmern aber es gibt heutzutage so viele Möglichkeiten wie das Kind zur Adoption freigeben. Wer kein Kontakt zum Kind haben möchte, kann das ja auch Gesetzlich festlegen lassen aber dem Kind das Leben zunehmen ist für mich schwer nachzuvollziehen.