30 Mal am Tag?! – Sage ich wirklich so oft „Nein“?

Eigentlich wollte ich meinen guten Vorsatz umsetzen, endlich mal all die alten Zeitschriften auszumisten, die ich in unzähligen Kartons aufbewahre. Logo, dass ich dafür in allen noch einmal blättern musste – und deshalb nicht weit gekommen bin. Gestoßen bin ich unter anderem auf einen alten Artikel im SZ-Magazin. Titel: „Nein“. Mehr nicht. Eine Zeile darunter folgt die Frage: „Bin ich zu streng?“

Der Autor, Marc Baumann, hat einen Tag lang auf Tonband aufgezeichnet, wie er mit seinem Kind spricht. Am Ende des Tages stellte er fest, dass er am Ende des Tages dreißig Mal „Nein!“ gesagt und fünfzig Verbote ausgesprochen hat. Und das, obwohl er selbst sein Kind als eher ausgeglichen und den Tag als aufregungsfrei beschrieben hat. Der Beitrag hat mich zum Grübeln gebracht: Wie sieht es eigentlich bei mir selbst aus?

Nur die anderen Eltern schimpfen, verbieten, nörgeln immer soviel! Oder?

Ich selbst schimpfe doch nicht soviel? Genau wie das Kind des Autoren ist mein siebenjähriger Sohn eher ausgeglichen. Klar, es gibt Phasen, wo jedes Wort ein Drama auslöst, ich ihm nichts recht machen kann, und wir uns gegenseitig auf die Palme bringen. Aber an normalen Tagen? Da höre ich vor allem andere Eltern meckern, verbieten und nörgeln, meist in den klassischen Situationen: Spielplatz und Supermarkt.

Auch Baumann beobachtete viele motzende Eltern – und war später von dem Ergebnis seines Selbsttests ganz schön erschrocken. Er stellte sich vor, in der Haut seines Kindes zu stecken, vier Jahre alt und winzig. Daneben sah er sich selbst, einen 1,90 Meter großen Kerl mit dunkler Stimme, der von der Diskussion genervt ist. „Und dieser allmächtige Papa will einfach nicht verstehen, dass man unbedingt das Marienkäferkleid anziehen MUSS! Egal, ob es zu kalt ist, heute ist Marienkäfertag.“

Ich dachte, ich hätte den Dreh einigermaßen raus

Warum lässt er sie das Kleid nicht einfach (mit Strumpfhose darunter) anziehen, dachte ich beim Lesen. Ist ja auch viel leichter bedürfnisorientiert zu denken, wenn man selbst nicht in der Situation steckt. Trotzdem: Eigentlich dachte ich, dass ich zumindest in dieser Hinsicht ganz gut davor war. Ich habe mich immer bemüht, eine Ja-Umgebung zu schaffen und mir so oft wie möglich ein Nein zu verkneifen. Fordert unser Sohn Süßigkeiten (obwohl er schon welche hatte), sage ich zum Beispiel: „Ich schneide dir gerne etwas Obst klein. Oder soll ich dir ein Käsebrot schmieren?“. Im Gunde verbirgt sich dahinter auch ein Nein, klingt aber irgendwie positiver.

Trotzdem wollte ich auch einmal bei mir selbst darauf  achten, wie oft ich etwas verbiete oder „Nein!“ sage. Am Ende des Tages wurde mir klar, wie oft auch ich  beides tue. Dafür brauchte es nicht einmal einen Tonbandbeweis.  „Nein, es gibt kein Nutella zum Frühstück“ (Das gibt es bei uns nur am Wochenende). „Nein, wir gehen jetzt noch nicht zur Schule“, „Nein, du darfst kein Eis.“, „Neeeeeein, wir müssen jetzt los.“ Schrecklich! Auf Tonband hätte meine Stimme anfangs meist sehr freundlich geklungen, dann aber doch schnell unverkennbar gereizt. Manchmal lege ich noch einen Zwischenton ein — klebrig süß und aufgesetzt verständnisvoll (Wer verliert denn hier die Fassung? Iiiiich doch nicht!). Den finde ich am schlimmsten. Dabei ist unser Sohn von seinen dreizehn Wachstunden sieben  – etwas mehr als der Hälfte also – in der Schule. Wie kann man da überhaupt soviel schimpfen und verbieten?

Kein Wunder, dass ich so oft ein Nein kassiere

Mir ist außerdem aufgefallen, wieviele dieser Neins sich vermeiden ließen. Denn oft gibt es nicht einmal einen Grund, seinen Wunsch abzulehnen – außer den, dass ich selbst mich gerade zu gestresst fühle, ihn zu erfüllen. Er möchte zum Beispiel morgens immer der Erste in der Schule sein. Ich erkläre ihm dann wie eine gesprungene Schallplatte (und zunehmend gereizt), dass wir noch nicht losgehen. Ich will nämlich morgens noch ganz in Ruhe einen Kaffee trinken, bevor ich später hektisch einen Berg an Aufgaben erledigen muss. Dabei müsste ich einfach nur etwas früher aufstehen, um mir diese Auszeit zu nehmen und ihn trotzdem früher zur Schule zu bringen, wenn er das unbedingt möchte.

Und ich entdeckte noch mehr Neins, die ich mir gut schenken könnte. Vielleicht lege ich sogar mal einen Tag ganz ohne Neins ein? Die hebe ich mir dann lieber für besondere Momente auf, etwa wenn unser Sohn kurz davor ist, auf eine stark befahrene Straße  zu rennen. Wenn ich damit nicht inflationär um mich werfe, weiß er (hoffentlich), dass es mir ernst ist, wenn ich ihn mal bremsen muss. Seit ich mir bewusst bin, wie oft ich etwas ablehne, reagiere ich auch viel verständnisvoller, wenn seine erste Reaktion auf eine Bitte von mir, „Nö“ ist – man lernt schließlich vom „Vorbild“, oder?

Jana Stieler

Ich lebe mit Mann und Sohn im Süden Hamburgs – am Rande der Harburger "Berge" (Süddeutsche mal kurz weghören: Der höchste Punkt misst immerhin sagenhafte 155 Meter ü. M.). Wenn ich nicht gerade einen Text verfasse, liebe ich Outdoor-Abenteuer mit meiner Familie, lange Buch-Badewannen-Sessions mit mir allein und abendliches Serien-Binge-Watching.

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