„Was ist denn jetzt das schon wieder, Jutta?” fragt meine langjährige Freundin Britta, als ich ihr begeistert von meiner neuen Entdeckung, der stärkenbasierten Erziehung erzähle.
„Ist das wieder so ein neuer Erziehungstrend? Nach bedürfnisorientiert, bindungsorientiert und beziehungsorientiert jetzt stärkenorientiert?“
Ich gucke sie verschmitzt an. „Es ist eigentlich nur eine kleine Veränderung in der Ausrichtung. Wie wenn du oben am Berg stehst und dich für die rechte oder linke Piste entscheiden musst. Dann drehst du deine Skispitzen entweder 10 Grad in die eine oder andere Richtung und fährst los. So ähnlich ist das bei der stärkenorientierten Erziehung auch – es ist eine kleine, aber entscheidende Veränderung im Umgang mit unseren Kids.”
Jetzt mal ohne Ski und Schnee – die will ja im Mai auch kaum noch jemand sehen: Stärkenbasierte Erziehung heißt, auf die Stärken in meinem Kind oder meinen Kindern gucken und nicht nur auf das, was es noch nicht kann oder was nicht gelingt.Das ist Schritt 1 – Stärken erkennen und benennen.
Schritt 2 ist Stärken zu fördern. Aber mal langsam mit den jungen Pferden. Für die meisten von uns – mir selbst inklusive – ist Schritt 1 schon eine kleine Herausforderung. Deshalb zeige ich dir in diesem Artikel, wie du Stärken in deinem Kind erkennen kannst und warum das gut ist.
Warum stärkenbasierte Erziehung sinnvoll ist
Studien haben gezeigt, dass eine stärkenbasierte Erziehung unseren Kindern und uns gut tut: Sie kann den Übergang von Kindergarten in die Grundschule erleichtern, höheres Wohlbefinden und Engagement in der Schule erzeugen und bessere akademische Leistungen bei Schüler*innen in weiterführenden Schulen und Student*innen hervorbringen. Für uns alle bringt der Blick auf unsere Stärken mehr Widerstandkraft, um mit Stress und unangenehmen Ereignissen umzugehen.
Eine stärkenorientierte Erziehung ergänzt daher die beziehungs- und bedürfnisorientierte Erziehung, um Resilienz und Optimismus in unseren Kindern zu fördern. Und diese beiden Kompetenzen können unsere Kinder in den aktuellen Zeiten wirklich gut gebrauchen.
Wie geht stärkenbasierte Erziehung?
Das Wichtigste an einer stärkenbasierten Erziehung ist, die Stärken von Kindern genauso oder sogar mehr in den Fokus zu nehmen als ihre Schwächen.
Ganz konkret geht das mit 5 Schritten:
Werde dir bewusst, was Stärken sind
Was meinen wir eigentlich mit Stärken? Schnell laufen, gut rechnen, Klavier spielen oder tolle Bilder malen können? Ja… und doch nicht ganz. Sportliche, musische und künstlerische Fähigkeiten sind Kompetenzen, die wir größtenteils im Laufe unseres Lebens erlernen. Einige von uns haben ein Talent für etwas – es fällt uns leichter, etwas zu lernen oder richtig gut zu werden.
Unter Stärken verstehen wir in der stärkenorientierten Erziehung eher positive Persönlichkeitsmerkmale, die relativ stabil sind und die zumindest teilweise angeboren sind. Zum Beispiel Humor, Mut, der Sinne für das Schöne oder Freundlichkeit. Eine ausführlichere Liste findest du hier.
Nimm deine eigenen Stärken bewusst wahr
Wenn wir an uns selber üben, unsere Stärken kennenzulernen und sie mit unseren eigenen Worten benennen, dann können wir das auch einfacher bei unseren Kindern tun. Ein wertschätzender Umgang mit eigenen Stärken ist daher ganz wichtig, bevor du mit der stärkenbasierten Erziehung deines Kindes beginnst.
Dazu folgenden Tipp: Mach den kostenlosen Charakterstärkentest unter www.gluecksforscher.de. Das ist ein anerkannter Test der Deutschen Gesellschaft für Positive Psychologie. Ja, man muss sich anmelden und ein paar wenige Daten verraten, aber dafür ist das ein wissenschaftlich fundierter Test.
Erkenne die Stärken deines Kindes
Überlege kurz, wann dein Kind einen seiner besten Momente hatte, es glücklich war, Energie hatte und etwas richtig gut „funktionierte“. Egal, ob zu Hause, auf dem Spielplatz, beim Spielen mit Freundinnen oder Freunden, bei Oma und Opa. Du solltest sie nur selbst erlebt haben und es sollte eine positive Erfahrung gewesen sein.
Beschreibe in ein paar Sätzen die Situation. Wer war da? Was ist passiert? Was hat dein Kind gemacht, was haben die anderen Personen gemacht und wie haben sie auf dein Kind reagiert? Und als nächstes: Welche positiven Eigenschaften hat dein Kind in der Situation gezeigt? War es besonders kommunikativ und engagiert mit anderen? Oder hat es viel Mut gezeigt? War es komplett in etwas versunken, was viel Ausdauer benötigt? Notiere alle Stärke(n), die du entdeckt hast.
Mache dir die Stärken deines Kindes täglich bewusst
Sei täglich ein Detektiv der Stärken deines Kindes. Blicke darauf, was funktioniert, was dein Kind gerne und häufig macht, was ihm Energie gibt und was ihm gelingt. Du kannst dafür zum Beispiel „Das Tagebuch für Eltern“ nutzen (jetzt bis 3.6.22 hier vorbestellen). Das ist ein geführtes Tagebuch für alle Menschen, die mit Kindern zusammenleben. Zu den täglichen Fragen gehören „Was ist meinem Kind gelungen“ und auch „Was habe ich heute gut gemacht“, damit du den Blick auf die Stärken deines Kindes und deine eigenen lenkst.
Nutze stärkenbasierte Erziehung in Konfliktsituationen
Wenn du dich über ein Verhalten deines Kindes ärgerst, ist es hilfreich, deinen neu gewonnen Stärkenblick einzusetzen. Statt dein Kind zu ermahnen oder zu schimpfen, dass etwas nicht erledigt ist oder es nicht auf dich hört: Schau auf die Stärken, die gerade zum Ausdruck kommen. Das braucht ein wenig Übung, aber es lohnt sich.
Kleines Beispiel: Ich habe einen Sohn, der – etwas untypisch für einen 6-Jährigen – Ordnung und Schönheit in seinem Zimmer mag. Als Stärke habe ich dahinter den Sinn für Schönes entdeckt. Wenn er also kurz vor dem Schlafengehen noch sein Zimmer „schön machen will” (und ich eigentlich Feierabend haben möchte), dann schicke ich ihn nicht ins Bett, sondern erwähne diese Stärke. Und dann machen wir das Turbo-Schön-Mach-Programm und 5 Minuten später liegt ein zufriedenes Kind im Bett.
Verwöhnen wir unsere Kinder zu sehr?
Klingt alles zu schön um wahr zu sein? Vielleicht hast du Sorge, dass du dein Kind mit einem stärkenbasierten Blick zu sehr verwöhnst oder dass es narzisstische Züge annimmt? Übertriebenes Lob kann Studien zufolge in Erwachsenen zu Selbstüberschätzung und Selbstverliebtheit folgen.
Aber das hat nichts mit stärkenbasierter Erziehung zu tun. Hier geht es darum, das innerste gute Wesen deines Kindes zu erkennen, zu benennen und deinem Kind bewusst zu machen.
Das „Tagebuch für Eltern“ hilft dir täglich dabei. Mit einem realistischen Blick auf die eigenen Stärken kommt übrigens meist auch der realistische Blick auf die eigenen Schwächen.
Die Autorin:
Dr. Jutta Merschen, Gründerin FamilyPunk, Systemische Elterncoach (ifw), Anwenderin der Positiven Psychologie (DGPP, i.A.), Mama von 3 wilden Jungs.