An meinen Siebenjährigen: Wann bist du nur so groß geworden?

Was musste ich schlucken, als wir vor kurzem deinen Ranzen ausgesucht haben. Dieser große, clevere Junge sollte das hilfloses Bündel gewesen sein, das einst in meinen Armen lag? Du hast mich ernst angesehen und vollkommen logisch erklärt, warum es genau dieser Ranzen sein musste, den du dir gerade auf den Rücken gesetzt hattest. Wann bist du nur so groß geworden?

Ich blinzelte unauffällig eine Träne weg und sah plötzlich schärfer – und zwar den großartigen Jungen, der du jetzt bist. Ganz sicher will ich nicht, dass du immer „mein Kleiner“ bleibst. Ich will sehen, wie du dich zu einer eigenständigen Persönlichkeit – und ja –, damit auch ein Stück von uns weg entwickelst. Zumindest wünscht sich das mein Kopf, das Herz hinkt manchmal noch etwas hinterher.

Früher wolltest du mir nicht von der Seite weichen

„Du musst aufpassen, dass er nicht zu sehr an dich klammert“, rieten mir andere Mütter, als du noch nicht einmal ein Jahr alt warst. Damals wolltest du meinen Schoß kaum verlassen. Ich habe dich nicht festgehalten, aber auch nicht verlangt, dass du dich ins Getümmel stürzt. Stattdessen habe ich darauf vertraut, dass du deine Bedürfnisse am besten kennst. Ich wollte dein Selbstvertrauen stärken, indem ich auf sie eingehe. Schließlich braucht man das, um Eigenständigkeit zu entwickeln. 

Ich glaube, dieser Teil hat ganz gut funktioniert. Du hast  dich auf deinen eigenen Weg begeben. In so winzigen Schritten, dass ich sie währenddessen manchmal kaum bemerkt habe. Und nun kommt es mir so vor, als hättest du über Nacht eine riesige Entfernung zurückgelegt. Wann hast du dich eigentlich das letzte Mal so vertrauensvoll wie früher an mich gekuschelt? Wann hast du mich das letzte Mal gebeten, dir eine Geschichte vorzulesen, statt dir einfach auf einem Gerät selbst das gerade passende Hörspiel anzuklicken? Habe ich die Zeit davor genügend ausgekostet?

Was ist mit dem magischen Bullerbü, das ich für dich errichten wollte?

Beinahe so etwas wie Panik überkommt mich bei dem Gedanken, dass ich es nicht getan habe. Dabei hatten mir doch schon nach deiner Geburt alle versichert, wir kurz diese Phase ist.  Oft habe ich mich einfach nur irgendwie durch den Tag gehangelt – erschöpft von den Anforderungen, die an mich gestellt wurden. Manchmal habe ich beinahe sehnsüchtig darauf gewartet, dass es für dich Schlafenszeit wird, damit ich trotz meiner Liebe zu dir noch ein wenig Zeit für mich hatte. Das ist nun einmal der vermaledeite Alltag, den man eher auf Autopiloten als mit ständiger Euphorie durchläuft.

Irgendwie ahnte ich insgeheim, wie kurz die wirklich innige Zeit ist, in der Mama und Papa allwissende Superhelden, Weltretter und Lieblingsmenschen sind. Aber morgen ist ja auch noch ein Tag, um mehr Achtsamkeit zu praktizieren. Das dachte ich jedenfalls, wenn ich mal wieder ausgelaugt von der Arbeit nur halb abwesend mit dir Lego gebaut habe. Natürlich haben wir Abenteuer und wunderschöne Erlebnisse geteilt – aber hätten es nicht noch mehr sein sollen? Was ist mit dem magischen Bullerbü, dass ich für dich errichten wollte?

Wir sind da, auch wenn du uns nicht siehst

Wenn du heute auf einem Spaziergang einige Meter vor uns gehst, siehst du dich kaum einmal um. Das sollte mir eigentlich nicht einen solchen Stich versetzen, denn es zeigt dein Vertrauen – und doch fehlst du mir manchmal ganz nah an meiner Seite, auch wenn ich versuche, es dir nicht zu zeigen. Nichts ist nerviger und vertreibt Kinder zuverlässiger, als wenn Eltern emotionalen Druck ausüben.

Aber auch, wenn du meine Hand immer seltener ergreifen magst: Sie wird im Hintergrund immer da sein, um deinen Rücken zu stärken und dich aufzufangen, wenn du es brauchst. Ich hoffe, das weißt du. Wenn ich dein verschmitztes, beinahe nachsichtiges Lächeln richtig deute, bin ich mir beinahe sicher, dass du es tust.

Jana Stieler

Ich lebe mit Mann und Sohn im Süden Hamburgs – am Rande der Harburger "Berge" (Süddeutsche mal kurz weghören: Der höchste Punkt misst immerhin sagenhafte 155 Meter ü. M.). Wenn ich nicht gerade einen Text verfasse, liebe ich Outdoor-Abenteuer mit meiner Familie, lange Buch-Badewannen-Sessions mit mir allein und abendliches Serien-Binge-Watching.

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