Seit Wochen beherrscht das Coronavirus unser Leben. Wir müssen uns in vielen Bereichen stark einschränken, dürfen kaum Freunde treffen, die Kitas sind geschlossen und vieles mehr. Die meisten von uns hoffen sehnlichst darauf, dass das alles bald ein Ende hat, und wir Stück für Stück unser altes Leben und unsere Normalität zurückbekommen. Aber auch, wenn es erst einmal komisch klingt: Für einige Menschen ist die Corona-Pause eine echte Erleichterung.
So wie für Anna (echter Name ist uns bekannt) aus unserer Community. Die Mutter einer Tochter leidet an Depressionen und Burn-Out. Wie und warum Corona ihr dagegen hilft, hat sie uns erzählt:
„Das Leben steht Kopf. Es fühlt sich an, als wäre nichts so, wie es sein soll. Ich bin überfordert, gestresst, schlecht gelaunt. So geht es sicher vielen Menschen im Moment. Aber ich spreche nicht von der Lage seit Corona – ich spreche von der Zeit davor.
Denn im Moment geht es mir besser als sonst!
Dass das so ist, hängt sicherlich damit zusammen, dass ich im ‚normalen‘ Leben eben nicht dem Standard entspreche. Äußerlich schon: Mutter, Teilzeitjob. Innerlich: Depressionspatientin mit Vollzeit-Burn-Out. Mutter, Putzfrau, Arbeitnehmerin, Liebhaberin, Freundin, Nachbarin, etc. – diese ganzen ‚Jobs‘ sind mir zu viel geworden.
Schon morgens fängt der Stress an mit dem frühen Aufstehen. Hier ein Termin, da ein Termin. Alles im Blick behalten, nichts vergessen: Wer hat wann Training, wann muss die Mülltonne rausgestellt werden, wie viele Maschinen Wäsche schaffe ich an einem Tag, und hat das Auto noch genug Benzin im Tank?
Was nach Multitasking für die Otto-Normal-Mutter von heute klingt, hat mich krank gemacht.
Bei dem Versuch, alles halbwegs hinzubekommen, kam ich selbst immer mehr zu kurz. Mir fehlte irgendwann nicht mehr nur noch die Zeit, sondern auch der Antrieb und schlussendlich die Kraft. Und die Tatsache, dass andere das scheinbar mühelos schaffen oder wenigstens nur murren und es annehmen und aushalten, betrachtete ich immer mehr mit einer irritierten Mischung aus Bewunderung und Bedauern.
Es war selbstverständlich (und finanziell notwendig), dass ich bald nach der Geburt unseres Kindes wieder arbeiten ging. Doch schon sehr schnell merkte ich, dass das überhaupt nicht mehr meine Welt war. Die Aufgaben wurden mir zu viel, und der Druck verursachte bald nicht nur noch schlechte Laune, sondern auch körperliche Beschwerden. Und immer wieder den Gedanken im Kopf:
‚Du bist doch nicht ganz richtig. Mit dir stimmt was nicht. Alle anderen bekommen das doch auch hin!‘
Psychotherapie, Kur, Psychopharmaka – es ist nicht so, dass ich nichts unternommen hätte. Aber ich scheiterte immer wieder an der Realität. Denn das Leben findet nicht im geschützten Rahmen einer Klinik statt. Und Krankheit gilt immer noch als Zeichen von Schwäche. Vor allem, wenn man sie einem nicht ansieht. Ein gebrochenes Bein wird eben eher akzeptiert als eine psychische Erkrankung. Das führte dazu, dass ich mir immer mehr Gedanken darum machte, was die anderen von mir, meinem Fehlen bei der Arbeit und meiner Existenz halten.
Ich beschäftigte mich damit, ob ein Ausstieg aus der Gesellschaft in Frage kommen könnte. Bekannte von mir waren über den Winter mit dem Wohnwagen in Spanien. Aber die Verlockung, ein unkonventionelles Leben zu führen, und materielle Dinge auf das Nötigste zu reduzieren, scheiterte an den Finanzen. Denn um sich so etwas leisten zu können, braucht man entweder viel Geld oder die Gelassenheit, mal mit mehr, mal mit weniger auszukommen. Für planungsfanatische Menschen wie mich der Horror! Sogar noch schlimmer als der normale Alltagswahnsinn.
Und in diesem ganzen Gedankenchaos tauchte plötzlich etwas auf: das Corona-Virus.
Die Welt musste umdenken, es gab immer mehr Regeln und Verbote, Einschränkungen und Bestimmungen. Plötzlich wurde das verlangt, was vorher nicht gewollt war: Wir sollten zu Hause bleiben. Nur ein Minimum an sozialen Kontakten. Keine Treffen, keine Termine, vom Arztbesuch mal abgesehen. Alle wurden hektisch, nur ich wurde ruhiger und dachte:
‚Willkommen in meiner Welt. In einer Welt, in der man das Gefühl hat: Hier passe ich nicht rein. So habe ich mir das nicht vorgestellt. Ich will einfach aufwachen und es ist alles, wie es mal war.‘
Plötzlich fiel es nicht mehr negativ auf, wenn ich ein Treffen absagte, weil ich nicht die Kraft aufbrachte, mich abends noch aufzuraffen.
Denn es gab keine Treffen. Die Aufgabe, sich mit sich selbst zu beschäftigen, ist für viele eine große Herausforderung.
Viele mögen dieses Auf-Sich-Bezogen-Sein nicht. Für mich hat es etwas sehr Entspannendes. So viel Zeit mit dem Nachwuchs zu verbringen, finde ich super. Unsere Beziehung hat sich in den letzten Wochen sehr verbessert. Auch hier fällt mir auf: Ich bin gelassener, relaxter. Sogar in meiner Beziehung läuft es besser. Meine Stimmung wird nicht mehr durch die Täler der Depression in so großem Maße hinuntergezogen.
Natürlich bekam ich am Anfang Panik, dass wir uns mit Corona anstecken könnten. Ich sah mich schon auf der Intensivstation oder auf der Beerdigung meiner Liebsten. Um das zu verhindern, zog ich mich so gut es ging zurück.
Und in diesem Rückzug lag urplötzlich meine Chance auf Heilung.
Denn die Zeit und die Ruhe, die immer gefehlt hatten, um mich meinen Problemen zu stellen, waren auf einmal da. Ich war dankbar für meine eigene Gesundheit und für die meiner Familie. Meine alte Kraft tauchte wie Phönix aus der Asche wieder auf, nachdem ich mich besser auf mich konzentrieren konnte.
Allerdings wird mir immer mehr klar, dass ich mein Leben in Zukunft ganz neu überdenken und anders anpacken muss. Denn diese Phase des Lockdowns wird (wovon wir ja mal ausgehen) spätestens in ein paar Monaten vorbei sein.
Wenn für die anderen das Leben wieder richtig los geht, beginnt für mich wieder der Kampf. Und ich möchte nicht mehr nur noch kämpfen. Ich möchte leben!“
Liebe Anna, vielen Dank, dass Du Deine ehrliche Geschichte mit uns geteilt hast!