„Das Kind ist aber schon sehr erwachsen für sein Alter” – warum dieser Satz ein Alarmsignal sein sollte

Auf den ersten Blick klingt das doch nach Anerkennung – wow, wie erwachsen dieses Kind schon ist, so reif und vernünftig. Was soll daran schlecht sein? Viel! Denn wenn ein Kind sehr schnell erwachsen werden musste, weil es von seinen Eltern parentifiziert (“zum Elternteil gemacht”) wurde, dann zeigen solche Sätze einfach nur, dass es viel zu wenig echte Kindheit hatte. Und das kann sich negativ auf die gesamte Entwicklung bis ins Erwachsenenleben hinein auswirken.

Ich weiß, wovon ich spreche – denn ich war so ein parentifiziertes Kind und erzähle hier, wie es mir damit erging, wo die Gefahren liegen und woran Eltern erkennen, dass sie ihre Kinder zu erwachsen behandeln.

Parentifizierte Kinder – was ist das?

Parentifizierte Kinder sind Kinder, die in ihrer Kindheit in eine Elternrolle gedrängt werden – und das meistens von den Eltern.

Oft sind Einzelkinder oder die Erstgeborenen betroffen, die dann Aufgaben im Familiengefüge übernehmen, die eigentlich den Erwachsenen vorbehalten sein sollten.

Oft äußert sich das, indem ältere Kinder sich ständig um die kleineren Geschwister kümmern, deren Erziehung mitübernehmen oder den halben Haushalt wie selbstverständlich alleine managen. Auch ein typischer Fall von Parentifizierung: Wenn Kinder sich um das Seelenheil der Eltern kümmern „dürfen“. So wie in meinem Fall.

Ich war so ein parentifiziertes Einzelkind.

Bei mir sah das so aus: Je älter ich wurde, desto mehr bezogen mich meine Eltern in ihre Eheprobleme ein. Sie hatten so einige Probleme miteinander – und ich war jeweils der Kummerkasten für beide.

Das ging bei uns schon los, als ich ca. 5-6 Jahre alt war. Das Foto dieses Beitrags wurde kurz vor meiner Einschulung aufgenommen, und ich erinnere mich noch sehr gut an diesen Streit zwischen meinen Eltern im Urlaub, der dazu führte, dass sie nichtmal mehr gemeinsam spazieren gehen konnten.

Ich war beim Seilspringen zwischen ihnen „ganz nebenbei“ damit beschäftigt, Botschaften zwischen ihnen zu vermitteln.

Worum es dabei genau ging, weiß ich natürlich nicht mehr.

Aber ich stand ständig dazwischen, mitten im Loyalitätskonflikt.

Ich hatte sie doch beide lieb – zu wem sollte ich denn jetzt halten? Ich habe relativ schnell kapiert: Mein Job ist es hier wohl, beide irgendwie bei Laune zu halten. Zu vermitteln, zuzuhören, über ihre Gefühle zu sprechen und gemeinsam mit ihnen Lösungen zu finden. Damit unsere Familie nicht auseinanderbrach.

Das war aus heutiger Sicht betrachtet auf so vielen Ebenen falsch, dass ich bei diesen Erinnerungen nur noch den Kopf schütteln kann.

Noch trauriger macht mich eigentlich nur noch, dass alle anderen Erwachsenen ständig gesagt haben:

“Toll, die Ilona ist ja schon so erwachsen!”,

statt meine Lage zu erkennen und meinen Eltern den Kopf zu waschen. Aber unserem Umfeld war einfach nicht klar, woran das lag, dass ich schon so erwachsen war.

Natürlich habe ich mein Bestes gegeben und immer zwischen meinen Eltern vermittelt.

Tatsächlich konnte ich in vielen Fällen Kompromisse aushandeln und für Versöhnung sorgen. Ich habe einen guten Job gemacht, könnte ich im Nachhinein sagen – wenn es nicht so bitter wäre. Denn das Ganze hatte Konsequenzen für mein ganzes, restliches Erwachsenenleben.

Welche Verhaltensweisen sind typisch für parentifizierte Kinder?

Darüber habe ich mit Familienberaterin Katharina Hübner von sichtwechsel_erziehung gesprochen. Sie hat mir erklärt, welche typischen Verhaltensweisen parentifizierte Kinder an den Tag legen, an denen ihr erkennen könnt, ob etwas schief läuft:

  • Euer Kind übernimmt zu viele Aufgaben im Haushalt, und das ganz selbstverständlich Tag für Tag.
  • Es hat generell wenig kindliche Bedürfnisse oder Interessen, nimmt zum Beispiel kaum Hobbys wahr.
  • Es hat weniger Kontakte zu Gleichaltrigen als andere Kinder.
  • Sein Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein ist sehr stark ausgeprägt (möchte immer „alles im Griff“ haben).
  • Es erlaubt sich selbst kaum Schwächen.
  • Es hat ein oft übersteigertes Bedürfnis nach Harmonie, um Spannungen zu vermeiden
  • Es vermeidet gern Konflikte, „macht kein Theater“, schraubt eigene Bedürfnisse zurück.

Welche Konsequenzen hat Parentifizierung für Kinder?

Wenn man das alles so liest, könnte man denken –  na und, ist doch halb so wild.

Was soll daran schlimm sein, wenn Kinder schon früh lernen, Verantwortung zu übernehmen und sich zurückzunehmen? Das Problem daran ist, dass Kinder wie ich diese Eigenschaften nicht in einem normalen Maße annehmen, sondern sich selbst komplett zurücknehmen, während sie denken, sie seien für das Seelenheil aller anderen verantwortlich.

Und daraus können ernsthafte, gesundheitliche Konsequenzen resultieren.

Diese Konsequenzen sehen oft folgendermaßen aus:

  • Aus parentifizierten Kindern werden oft Erwachsene, die keine Verantwortung abgeben können, es jedem Recht machen wollen und später selbst Liebe an den falschen Stellen suchen.
  • Sie erkennen ihre eigenen Grenzen nicht, was gefährlich werden kann, weil sie den Bedürfnissen anderer zum Beispiel auch Vorrang vor der eigenen Gesundheit gewähren.
  • Sie kommen selbst immer zu kurz und müssen erst lernen, sich bemerkbar zu machen, weil sie nie gesehen werden.
  • Sie brennen dadurch viel schneller aus als andere Menschen.
  • Angststörungen, Bindungsprobleme und ein geringes Selbstwertgefühl sind außerdem typisch für Erwachsene, die als Kind parentifiziert wurden.

All diese Punkte kann ich leider nur bestätigen.

Dass ich keine Verantwortung teilen kann, ist ein permanentes Reizthema in meiner heutigen Beziehung (“Wir sind ein Team, Ilona – du musst nicht alles alleine machen!” – der Satz fällt bei uns in Dauerschleife).

Es fällt mir sehr schwer, Grenzen zu setzen , ich fühle mich für alles und jeden verantwortlich. Deshalb bin ich oft völlig ausgebrannt, aber das ist ja auch kein Wunder: Es ständig jedem recht machen zu wollen, ist wahnsinnig anstrengend – am liebsten würde ich diese schlechte Angewohnheit einfach abstreifen.

Ich komme dadurch ständig zu kurz und musste mein Leben lang in allen Beziehungen darum kämpfen, darin gesehen zu werden.

Plus: Ich kann mich kaum noch an meine Kindheit erinnern, weil sie durch diese Erwachsenenrollen so kurz ausfiel.

Aber woran erkennen Eltern, dass sie ihre Kinder parentifizieren?

Zum Beispiel an solchen dafür typischen, immer wiederkehrenden Verhaltensweisen…

  • Ihr lästert bei eurem Kind über euren Partner.
  • Ihr sprecht mit eurem Kind über eure Beziehungsprobleme, sucht Rat bei dem Kind, haltet es in diesen Dingen vielleicht sogar auf dem Laufenden.
  • Ihr sprecht mit dem Kind mehr über eure eigenen Gefühle als über die des Kindes.
  • Ihr gebt vielleicht sogar vor anderen damit an, wie erwachsen euer Kind schon ist und vermittelt ihm damit, dass ihr stolz darauf seid und es diese Eigenschaft bloß nicht ablegen soll.
  • Ihr überträgt dem Kind sehr viel Verantwortung für seine Geschwister, die es noch gar nicht tragen kann.
  • Ihr lasst dem Kind keinen Freiraum – es muss die Geschwister zum Beispiel ständig überall hin mitnehmen und ist hauptverantwortlich für ihre Versorgung.
  • Ihr streitet ab, die vorher genannten Verhaltensweisen je an den Tag gelegt zu haben.

Mein Appell deshalb: Bitte hört auf, eure Kinder zu parentifizieren!

Wenn euch als Eltern davon irgendwas bekannt vorkommt, kann ich als betroffenes Kind nur bitten: Nehmt die Folgen der Parentifizierung ernst und arbeitet an eurem Verhalten, damit sich euer Kind als solches wieder gesehen und verstanden fühlen darf.

Gerade, weil ich weiß, welche Auswirkungen dieses Verhalten auf das spätere Erwachsenendasein haben kann, ist es mir ein großes Anliegen, darüber aufzuklären.

Sonst steht ihm ein lebenslanger Kampf gehen früheste Kindheitsprägungen bevor, der enorm viel Energie kostet und dem sozialen Umfeld sehr viel Verständnis abverlangt. Das könnt ihr euren Kindern mit etwas Sensibilität ganz leicht ersparen und ihnen damit eine schönere Kindheit zurückgeben.

Ilona Utzig

Ich bin Rheinländerin, lebe aber seit vielen Jahren im Hamburger Exil. Mit meiner Tochter wage ich gerade spannende Expeditionen ins Teenager-Reich, immer mit ausreichend Humor im Gepäck. Wenn mein Geduldsfaden doch mal reißt, halte ich mich am liebsten in Küstennähe auf, je weiter nördlich, desto besser.

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