Wir sind mal wieder spät dran. In zehn Minuten müsste mein Sohn sich auf den Schulweg machen. Ich bitte ihn, sich schnell anzuziehen. „Gleich“, sagt er. Fünf Minuten später finde ich ihn in seinem Zimmer – ganz friedlich in ein Comic vertieft. Ich selbst schnaube manchmal innerlich immer noch vor Wut, trotz aller guten, bedürfnisorientierten und empathischen Vorsätze. Bin ja auch nur ein Mensch. Aber wenigstens reagiere ich sehr viel entspannter, seit ich glaube, etwas Wichtiges begriffen zu haben glaube:
Mein Stress ist nicht der meines Kindes
Als er mir gesagt hat, dass er sich wirklich „gleich“ anzieht, war ihm nicht klar, dass ich „sofort“ gemeint hatte. Und als er auf halber Strecke über etwas Faszinierendes gestolpert ist, hat er sich Zeit dafür genommen. Er sieht nur, was im Moment zählt. Was in Zukunft sein soll, übt noch keinen Druck auf ihn aus. In fünf Minuten, in einer Stunde, irgendwann halt, aber nicht jetzt. Gestern, heute, morgen? Das verschwimmt, erst mit zehn bis zwölf Jahren entwickeln sie ein gutes Gespür für die Zeit. Nur wir wissen, dass es wirklich notwendig ist, in exakt fünf Minuten das Haus verlassen müssen, und wie lange es ungefähr dauert.
Wenn ich gerade mal nicht gestresst bin oder ich gedanklich durch meine endlose To-Do-Liste rattere, finde ich es sogar richtig cool, dass sein Zeitempfinden so anders ist als mein. Ich denke manchmal schon im Januar wehmütig „Oh Gott, am Ende wird das Jahr wieder viel zu schnell vergangen sein.“ Natürlich habe ich spätestens am 1. Dezember das Gefühl, ich hätte Recht behalten. Mein Sohn denkt derweil am 1. Dezember: „Oh Gott, bis Weihnachten ist es noch eine Ewigkeit hin.“ Und so ist es auch – in seiner Welt.
Wir Erwachsenen geben viel Geld für Ratgeber und Meditationskurse aus, die uns beibringen sollen, „ganz im Moment zu leben.“ Erklär das mal deinem Kind, ich wette, die Reaktion wäre „Hä?!“ Dein Kind bekommt es nämlich von ganz alleine hin – bis wir ihm abtrainieren, was wir wieder lernen wollen.
Mehr tun, verschafft nicht mehr Zeit
Wir gewinnen keine Zeit, wenn wir unendlich viele Handlungen in eine Stunde pressen. Das ist purer Stress! Dabei sollte es sich doch zumindest so anfühlen, als würde die Stunde sich dehnen, wenn wir innerhalb dieser Zeit mehr schaffen? Pustekuchen. Denn meistens waren wir währenddessen gar nicht richtig da – und wenn wir wieder zu uns kommen, fühlt sie sich an, als sei sie verflogen.
Für Kinder vergeht die Zeit langsamer, weil sie einfach immer „da“ sind und Neues aufnehmen, während wir in Routinen und Grübeleien ersticken.
Dabei haben Routinen auch etwas Gutes
Die Lösung scheint einfach, zumindest wenn man den Sinnsprüchen auf Teebeuteln und Kalendern glaubt: „Mach’s wie die Kinder. Sei achtsamer, mach langsamer!“ Aber ich verstehe vollkommen, wenn du mir ins Gesicht lachst und sagst: „Na danke, wann soll ich das denn machen?!“ Wir sollen ja am besten selbst beim Putzen achtsam sein, bei dem ich lieber ein Hörbuch höre und ich mich gar nicht daran störe, dass die Zeit einfach so verronnen ist.
Routinen sind nicht nur böse. Wir brauchen sie, um unser Leben zu strukturieren und zu vereinfachen. Manche Dinge müssen außerdem einfach erledigt werden, und zwar innerhalb einer bestimmten Frist. Und wenn etwa der Bus nur einmal die Stunde fährt, ist es clever ihn zu bekommen – weswegen du dich und dein Kind ab und an einfach drängen musst.
Wie du trotzdem kleine Zeitinseln schaffst
Aber seit einiger Zeit versuche ich, die kleinen Lücken zu erkennen, die ich sonst sofort mit Netflix und Scrollen auf dem Smartphone verdattelt habe. Das Leben ist zu kurz für Langeweile? Stimmt nicht. Wenn wir sie zulassen – einfach mal nur den Wolken beim Vorbeiziehen zusehen – vergeht die Zeit langsamer.
Wir können uns nicht immer nach dem Zeitempfinden unserer Kinder richten, aber manchmal lohnt es sich doch, ihm nachzugeben. Müsst ihr echt sofort in den Supermarkt hetzen? Sind zehn Minuten Verspätung beim Playdate wirklich wild? Müssen es für das Kind gleich zwei Sportkurse die Woche sein?
Auf jeden Fall sei nicht sauer, wenn dein Kind gerade mal wieder nicht aus den Puschen kommt. Es will dich nicht ärgern, es hat nur gerade mal wieder die Zeit angehalten.