Eltern-Kind-Entfremdung: Wie bekomme ich mein Kind zurück?

Wo früher eine innige Beziehung war, ist plötzlich Kälte, Ablehnung und Distanz: Wenn sich Kinder von einem Elternteil abwenden, tut das nicht nur weh, sondern zurück bleibt auch ein Gefühl der absoluten Hilflosigkeit. Wie konnte es so weit kommen? Oder was können Eltern in so einem Fall tun? Auch Iryna, eine Mama aus unserer Community, muss das gerade erfahren und hat uns hier ihre Geschichte erzählt. Ihr einst anhänglicher und vertrauter Sohn meidet plötzlich den Kontakt, ist kühl und distanziert.

Aber wie kommt es dazu, dass sich ein Kind so extrem von einem Elternteil abwendet?

„Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, als würde sich ein Kind plötzlich ohne erkennbaren Grund von einem Elternteil abwenden“, erklärt mir Dr. Aylin Thiel. Sie ist Psycho- und Traumatherapeutin und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit schwierigen Eltern-Kind-Beziehungen. „Doch hinter jeder solchen Abwendung steht ein tiefer emotionaler und schleichender Prozess. Kinder sind sehr sensibel und nehmen Spannungen, emotionale Distanz und unausgesprochene Konflikte zwischen ihren Eltern intuitiv wahr“, erklärt die Expertin.

Besonders in Sorgerechtsstreitigkeiten oder schwierigen Trennungen komme es häufig vor, dass Kinder unbewusst in die Loyalitätskonflikte der Eltern hineingezogen werden.

Tatsächlich distanzierte sich auch Irynas Sohn erst nach der Scheidung von ihrem Mann von ihr, weshalb sie vermutet, dass ihr Ex ihn aktiv von ihr entfremdet. Auch das sei nicht ungewöhnlich in solchen Konflikten, erzählt Frau Dr. Thiel. „Dies kann subtil geschehen, durch negative Bemerkungen über den entfremdeten Elternteil, durch ständige Kritik oder durch das Hervorheben von Fehlern und Versäumnissen des abgelehnten Elternteils.“

Aber: Nicht immer muss aktive Manipulation im Spiel sein!

Oft geschehe die Beeinflussung durch ein Elternteil auch unbewusst – aus dem eigenen emotionalen Schmerz heraus, erklärt die Expertin. „Kinder spüren diese negative Haltung und reagieren darauf, indem sie ihre Beziehung zu diesem Elternteil zunehmend in Frage stellen.“ Oft nähmen Kinder auch wahr, dass ein Elternteil schwächer, verletzlicher oder emotional bedürftiger ist. Indem sie sich von dem vermeintlich stärkeren Elternteil distanzieren, wollen sie den schwächeren Part schützen.

„Oft fühlen Kinder unbewusst eine tiefe Verantwortung für das emotionale Wohlergehen ihrer Eltern“, so Dr. Thiel. Indem sie einen Elternteil ablehnen, versuchen sie also ihren inneren Loyalitätskonflikt zu lösen und eine vermeintliche Harmonie in ihren eigenen Emotionen herzustellen. Meist können Kinder das aber gar nicht bewusst benennen, sondern sie spüren nur eine Unzufriedenheit und einen inneren Druck, den sie nicht verstehen können.

Übrigens: Vorsicht bei den Begrifflichkeiten!

Früher sprach man im Zusammenhang mit einer aktiven Entfremdung durch ein Elternteil oft von dem Parental Alienation Syndrome (PAS), was man bis heute noch häufig liest. Teilweise wurde es sogar vor Gericht in Sorgerechtsstreitigkeiten berücksichtigt. Mittlerweile gilt es aber als unwissenschaftlich, da es keine eindeutigen Klassifikationskriterien gibt, die eine echte „Diagnose“ möglich machen.

Heute versteht man unter dem Begriff Eltern-Kind-Entfremdung allgemein das Phänomen, wenn sich ein Kind ohne „erkennbaren“ Grund, wie z.B. Gewalt oder Missbrauch von einem Elternteil abwendet. Nicht dazu zählt hingegen das „normale“ Abgrenzen von Kindern in bestimmten Altersphasen, wie z.B. im Teenageralter oder in der Autonomiephase (Häufiger Klassiker: Papa „darf“ plötzlich nichts mehr machen).

Ausreden & Vorwürfe als Anzeichen für eine „echte“ Entfremdung

Wie auch in den Schilderungen von Community-Mama Iryna, ist eines der deutlichsten Anzeichen für eine Entfremdung die emotionale Distanzierung. Das heißt konkret, dass ein Kind zum Beispiel keine Zeit mehr mit einem Elternteil verbringen möchte, Ausreden erfinden oder sich komplett zurückzieht. 

Häufig kämen auch negative oder kritische Einstellungen und plötzliche Vorwürfe wie „Du verstehst mich nicht“ oder „Du hast mich nie wirklich geliebt“ dazu, erklärt die Psychotherapeutin. Dabei dürfe man aber nicht vergessen, dass diese Aussagen oft die Emotionen widerspiegeln, die das Kind vom anderen Elternteil aufnimmt, und nicht unbedingt seine eigenen Gefühle.

Übertriebene Idealisierung als Schutzmechanismus

Ebenso typisch für eine Entfremdung ist, dass Kinder ein Elternteil in einem übertrieben guten Licht sehen, während der entfremdete Elternteil pauschal abgewertet wird. „Es gibt wenig oder gar keine Grauzonen – der eine Elternteil ist ‘schlecht‘, der andere ‘gut‘. Diese Schwarz-Weiß-Denkweise ist ein Schutzmechanismus des Kindes, um mit dem emotionalen Konflikt umzugehen“, weiß Dr. Thiel.

Manchmal übernehmen Kinder plötzlich auch nur noch Informationen oder Erzählungen von dem „guten“ Elternteil, während der andere ständig kritisiert oder angezweifelt wird, ohne dass es dafür konkrete Gründe gibt.

Eltern-Kind-Entfremdung kann lebenslange Folgen haben

Abgesehen von dem Schmerz, den Eltern spüren, wenn sich ein Kind von ihnen distanziert, sind die Folgen der inneren Zerissenheit für Kinder besonders tiefgreifend. „Sie verlieren nicht nur den Kontakt zu einem geliebten Menschen, sondern auch einen Teil ihrer eigenen Identität, da Eltern ja auch ein wichtiges Spiegelbild ihrer selbst sind“, so die Psychotherapeutin.

Zu dem Verlustgefühl, das sie nicht richtig verarbeiten können, kommen in den meisten Fällen starke Schuldgefühle über den Kontaktabbruch, Traurigkeit, Unsicherheit und ein niedriges Selbstwertgefühl: „Kinder fragen sich oft, ob sie ‘falsch‘ gehandelt haben oder ob sie den Konflikt hätten verhindern können.“

Langfristige Beeinträchtigung von zwischenmenschlichen Beziehungen

In ihrer Arbeit erlebt Dr. Thiel täglich, dass diese Unsicherheiten viele Kinder bis ins Erwachsenenleben begleiten. Nicht selten führt das Erleben einer solchen Beziehungsstörung zu einem Elternteil später zu tiefsitzenden Ängsten vor einem Beziehungsabbruch. Viele haben Bindungsprobleme oder ein übermäßig hohes Bedürfnis nach Kontrolle in späteren Beziehungen. 

Die Frage nach dem Zurück – Kann eine Wiederannäherung gelingen?

Die gute Nachricht lautet: Ja, eine Entfremdung kann umgekehrt werden. Aber die Expertin betont auch, dass es ein langer Prozess ist, der sehr viel Geduld, Liebe, Verständnis und emotionale Offenheit erfordert. Oberstes Gebot ist dabei immer, das Kind nicht unter Druck zu setzen oder ihm Vorwürfe zu machen. Denn Druck erzeugt Gegendruck und wird das Kind eher zu mehr Distanz drängen. 

Vielmehr braucht das Kind in einer solchen Situation einen sicheren Raum, in dem es wieder Vertrauen zu dem entfremdeten Elternteil aufbauen kann. „Es geht darum, dem Kind die Möglichkeit zu geben, seine Gefühle auszudrücken, ohne Angst vor Verurteilung zu haben. Das bedeutet, als Elternteil auch den eigenen Schmerz und die eigenen Bedürfnisse hintenanzustellen und sich voll und ganz auf das Kind einzulassen.“

Bedingungslose Liebe und positive Erlebnisse

Das Kind muss spüren, dass der entfremdete Elternteil es liebt und immer bereit ist zuzuhören oder vielleicht auch eigene Fehler einzugestehen – ohne Erwartungen daran, dass das Kind sofort wieder Nähe aufbaut. Auch wenn das Kind merkt, dass positive, stressfreie gemeinsame Zeit möglich ist, ohne dass direkt wieder emotionale Konflikte aufkommen, kann schrittweise wieder Vertrauen aufgebaut werden.

Hat man das Gefühl alleine nicht weiterzukommen oder wenn die Situation zu eingefahren ist, kann auch eine Familientherapie oder Mediation helfen, alte Wunden zu heilen. Mit externer Unterstützung fällt es oft leichter, dass alle Beteiligten ihre Sichtweise äußern können, ohne dass das Kind sich gezwungen fühlt, Partei zu ergreifen.

Noch mehr Tipps, Experten-Wissen und Erfahrungen rund um das Thema findest du übrigens auch auf dem Instagram-Kanal von Dr. Aylin Thiel. Schau unbedingt mal dort vorbei!

Hast du es vielleicht selber erlebt, dass sich dein Kind von dir entfernt? Oder hast du selber den Kontakt zu deinen Eltern abgebrochen?

Ich freue mich auf deine Erfahrungen und Meinungen in einem Kommentar! 
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Jana Krest

Obwohl ich ein absolutes Landkind aus der Eifel bin, lebe ich schon seit einigen Jahren glücklich in Hamburg. Hier habe ich nach meinem Bachelor in Medien- und Kommunikationswissenschaften und Soziologie auch noch meinen Master in Journalistik und Kommunikationswissenschaften gemacht. Während meines Studiums kümmerte ich mich frühmorgens, wenn die meisten noch schliefen, bei der Deutschen Presse-Agentur darum, dass die nächtlichen Ereignisse aus ganz Norddeutschland in die Nachrichten kamen. Und ich hatte jahrelang noch den für mich besten Nebenjob der Welt: Die süßen Kinder von anderen betreuen. Nachdem ich Echte Mamas zunächst als Praktikantin kennenlernen durfte, schreibe ich nun als Redakteurin über alles, was Mamas beschäftigt: Von praktischen Ratgeber-Texten über aktuelle Trends bis hin zu wichtigen Recht- und Finanzthemen.

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