Eltern haben heute unzählige Möglichkeiten, ihre Kinder zu fördern und zu unterstützen. Doch genau das führt manchmal dazu, dass sie ihre Kinder überfordern. Wir haben mit Dr. Aylin Thiel darüber gesprochen, wann Eltern zu viel Druck ausüben und wie sie richtig fördern, ohne zu überfordern. Dr. Aylin Thiel ist Psycho- und Traumatherapeutin und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit schwierigen Eltern-Kind-Beziehungen.
„Eltern stehen selbst unter großem Druck.”
Die betroffenen Mütter und Väter wollen natürlich nur das Beste für ihr Kind, neigen aber dazu, sehr leistungsorientiert zu denken, Schwächen nicht zu akzeptieren und den Alltag der Kinder möglichst effizient durchzuplanen. Das bestätigt auch unsere Expertin: „Ich habe das Gefühl, dass viele Eltern heute höhere Erwartungen an ihre Kinder haben. Das liegt vermutlich daran, dass die Welt, in der wir leben, immer schneller und anspruchsvoller wird. Eltern stehen oft selbst unter großem Druck – sei es beruflich, finanziell oder gesellschaftlich.”
Manche Eltern machen sich auch Sorgen, dass ihr Kind den Anschluss verlieren könnte: „Viele möchten ihren Kindern die besten Chancen ermöglichen und haben vielleicht Angst, dass ihr Kind ‚nicht mit kommt‘, wenn es nicht früh genug gefördert wird. Hinzu kommen soziale Medien, die ein unrealistisches Bild von ‚perfekten‘ Familien und Kindern vermitteln können. All das kann dazu führen, dass Eltern unbewusst mehr fordern, als ihre Kinder leisten können”, erklärt Thiel.
Woran zeigt es sich, dass Eltern zu hohe Erwartungen haben?
„Zu hohe Erwartungen zeigen sich oft daran, dass Kinder in ihrem Alltag kaum noch Zeit für freies Spielen, Ruhe oder einfaches Kind-Sein haben. Wenn der Kalender eines Kindes voller Termine ist – von Musikunterricht über Nachhilfe bis hin zu Sportkursen – könnte das ein Hinweis sein. Es zeigt sich auch, wenn Eltern unbewusst Signale senden wie: ‚Du musst immer die Beste oder der Beste sein‘ oder wenn Fehler und Schwächen nicht akzeptiert werden.”
Die Folge: „Kinder können das Gefühl entwickeln, dass sie nur dann geliebt oder anerkannt werden, wenn sie Leistung bringen.”
Gründe für das Überfordern der eigenen Kinder sind vielschichtig
Doch warum neigen so viele Eltern dazu, ihre Kinder mit einem Überangebot an Förderung unter Druck zu setzen? Wie die Psychotherapeutin erklärt, stecken häufig gute Absichten dahinter: „Die Gründe sind oft vielschichtig und haben selten mit einer bewussten Entscheidung zu tun. Manchmal projizieren Eltern ihre eigenen, unerfüllten Träume auf ihre Kinder – sei es der Wunsch nach einer bestimmten Karriere oder einer Lebensweise, die sie sich selbst gewünscht hätten.
Oft steckt auch die Angst dahinter, das Kind könnte in der heutigen, wettbewerbsorientierten Welt nicht bestehen. Manchmal ist es einfach der Wunsch, dem Kind ein ‚besseres Leben‘ zu ermöglichen, ohne zu merken, dass dieser gut gemeinte Druck belastend sein kann.”
Was für Auswirkungen hat das auf die Kinder?
„Wenn Kinder unter ständigem Druck stehen, kann das langfristige Folgen haben. Sie fühlen sich oft, als wären sie nie genug, was ihr Selbstwertgefühl stark beeinträchtigen kann. Manche Kinder entwickeln Perfektionismus, um den Erwartungen zu entsprechen, was zu ständiger Anspannung führt. Andere ziehen sich zurück oder rebellieren, weil sie sich überfordert fühlen. In einigen Fällen kann der Druck auch körperliche Symptome auslösen, wie Bauchschmerzen, Schlafstörungen oder Ängste.
Warnzeichen, die anzeigen könnten, dass dein Kind überfordert ist
Wenn du dich gerade fragst, ob du dein Kind überforderst, solltest du jetzt weiterlesen. Dr. Thiel kennt einige Anzeichen, an denen du erkennst, dass dein Kind möglicherweise unter zu viel Druck steht: „Überforderung zeigt sich bei Kindern ganz unterschiedlich. Manche wirken plötzlich sehr still, ziehen sich zurück oder verlieren die Freude an Aktivitäten, die sie früher geliebt haben. Andere zeigen aggressives oder trotziges Verhalten, weil sie keinen anderen Weg finden, mit dem Druck umzugehen.
Auch körperliche Beschwerden wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Schlafprobleme können Hinweise sein. Es lohnt sich, aufmerksam hinzusehen, wenn ein Kind oft gestresst oder erschöpft wirkt.”
Wie finden Eltern das richtige Maß?
Bleibt nur noch eine Frage: Wie findet man denn das richtige Maß, um sein Kind zu fordern, aber nicht zu überfordern? „Das richtige Maß zu finden, ist keine einfache Aufgabe, aber es beginnt mit einer ehrlichen Selbstreflexion”, weiß die Psychotherapeutin.
„Eltern können sich fragen: ‚Was will ich für mein Kind, und warum? Will ich wirklich, dass es glücklich ist, oder versuche ich, eigene Unsicherheiten auszugleichen?‘ Es hilft, regelmäßig mit dem Kind zu sprechen und seine Wünsche, Stärken und Grenzen wahrzunehmen.
Kinder brauchen vor allem das Gefühl, dass sie bedingungslos geliebt werden – unabhängig von ihren Leistungen. Eine gute Faustregel ist, genügend Raum für Pausen, freies Spiel und kindliche Neugier zu lassen. Es ist okay, Kinder zu ermutigen, sich anzustrengen, aber genauso wichtig ist es, ihnen zu zeigen, dass es in Ordnung ist, Fehler zu machen und auch mal ‚nichts zu tun‘.”
Noch mehr Tipps, Experten-Wissen und Erfahrungen rund um das Thema Eltern-Kind-Beziehung findest du übrigens auch auf dem Instagram-Kanal von Dr. Aylin Thiel. Schau unbedingt mal dort vorbei!