„Früher hat man das auch so gemacht und wir leben noch!“ Ja. Aber…

Früher war alles besser. Kennen wir, oder? Da waren die Kinder noch draußen und nicht nur am Smartphone, da hatten Kinder noch Respekt vor den Erwachsenen, da wurde auf Bäume geklettert und nicht Klavier geübt. Schon der gute, alte Sokrates sagte damals genau das: Früher war alles besser und die Kinder braver.

Kindererziehung ist eine Modeerscheinung, wie auch Dalmatiner oder Tamagotschis und unterliegt ebenso wie bevorzugte Hunderassen oder Spielsachen dem Fluss der Zeit. Während früher autoritär angesagt war, ist heute unerzogen und selbstbestimmt der (fast) einzige akzeptierte Weg.

Der Alltag war anders als heute

Früher lautete das Credo „Ein gutes Kind ist eines, das nicht stört“ und das war wohl auch den Umständen geschuldet. Die Generationen vor uns mussten mehr und härter arbeiten, lebten nicht in der Überfluss-Gesellschaft, die wir kennen. Weil der Alltag beschwerlicher war, blieb nicht so viel Zeit, um sich so oft und intensiv mit dem Kind und seinen Bedürfnissen auseinanderzusetzen.

Dementsprechend war die Erziehung: Kinder sollten brav sein, gehorsam, Respekt haben und Pflichtbewusstsein. Die Eltern sahen die Kinder als ihr Eigentum an, das sie zwar beschützten, über das sie aber auch verfügen konnten.

Schläge waren normal

Es gab Maßnahmen, über die heute viele nur noch den Kopf schütteln können und manch einer liebevollen Mama läuft es kalt den Rücken hinunter, wenn sie davon hört.

Dazu zählt unter anderem die körperliche Züchtigung bei „Fehlern“ oder Gehorsamsverweigerung. Diese ist erst seit 2000 per Gesetz verboten, und viele der heutigen Elterngeneration können sich selbst an Schläge oder einen Klaps erinnern.

Auch das berühmte „Schreien-lassen“ ist ein Beispiel. Die Nazi-Erziehungs-Koryphäe Johanna Haarer hat das nicht erfunden, auch nicht Richard Ferber. Sie haben es nur in Theorien und Worte gefasst, Praxis war das schon vorher, wie auch „Echte Mama“-Maria weiß: „Mein Opa hat die abends sogar die Kinderzimmertüren zugeschlossen, damit die Oma nicht ständig rein rennt, wenn die Kinder schreien!“

Lange gängige Ansicht: Wenn auf Babys Schreien sofort reagiert wird, nutzt es das künftig gnadenlos aus. © Echte Mamas

Wenn Opa sagt: „Wir leben ja auch noch!“

Vor allem Johanna Haarers Bücher prägten Generationen, und die Ratgeber sorgten vor allem für eines: gehorsame Kinder, die bindungsarm aufwuchsen. „Das hat uns auch nicht geschadet, darum kann man das ruhig so machen“, nur einer der Nerv-Sätze die man heute noch hört – nicht nur von Omas und Opas, die ihre Erziehungsmethoden in vielen Familien gerne an die nachfolgenden Generationen weitergeben möchten.

Allzu erfolgreich sind sie mit diesem Tipp aber nicht, wie eine Gruppe Wissenschaftler an der Uni Osnabrück erklärt: „Der Befehlston, der während der 1960-er und 1970-er Jahre noch den familiären Haushalt prägte, ist weitgehend verschwunden und das schon in der Jugend der jetzigen Eltern. Heute kann man eher von einem Verhandlungshaushalt auf partnerschaftlicher Ebene sprechen,“ so Hans-Rüdiger Müller, Leiter der Studie Familienerziehung im Generationenvergleich“, gegenüber der Osnabrücker Zeitung.

Liebevollere Erziehung

Tatsächlich sind Eltern heutzutage liebevoller und einfühlsamer und nehmen jedes Kind als Individuum war, das seine eigenen Bedürfnisse hat. Man begegnet sich sozusagen auf Augenhöhe. Dass das ein Resultat der eigenen Erfahrungen sein kann, bezweifeln viele Psychologen nicht – weil der rabiate, oft lieblose Erziehungsstil von (Ur-)Oma und -Opa vielen eben doch geschadet hat.

In den meisten Familien wird Kindern heute auf Augenhöhe begegnet, sie werden ernstgenommen. Foto: Bigstock

Spätfolgen von autoritärer Erziehung

„Kinder, die in der Familie Gewalt und Erniedrigung erleben, sind traumatisiert und leiden oftmals ein Leben lang an einem gestörten Selbstwertgefühl“, so Ingrid Müller-Münch, Autorin des Buches „Die geprügelte Generation“ gegenüber T-Online.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch Ilka Quindeau, Katrin Einert und Nadine Teuber, die eigentlich eine Studie über Kinder und deren Erleben der Bombenangriffe im zweiten Weltkrieg machen wollten. Im Laufe ihrer Interviews fanden sie heraus, dass Traumata durch lieblose Erziehung verstärkt oder sogar ausgelöst wurden: „Auch wenn wir aus heutiger Sicht andere Grunde für das damalige Handeln der Eltern finden können (Überforderung und Stress in der Kriegssituation), so schlägt sich das damalige Erleben des Kindes doch in der weiteren Entwicklung und Lebensgestaltung nieder“, so die Forscherinnen.

Klaus Grossmann von der Uni Regensburg bestärkt das gegenüber der Zeit: „Alle Daten, die wir haben, deuten auf Folgendes hin: Wenn man einem Kind in den ersten ein oder zwei Lebensjahren eine feinfühlige Ansprache vorenthalten würde – so wie Johanna Haarer es propagiert hat –, bekäme man die eingeschränkten, emotions- und reflexionsunfähigen Kinder, die wir aus der Forschung kennen.“

Früher war also wirklich nicht alles besser und dass wir unsere Kinder nun anders erziehen und aus Erziehung Beziehung wurde, ist eine gute Entwicklung. Schließlich war „früher“ auch die Zeit, in der Kinder ohne Autositze mit in den Urlaub fuhren, Kinder an Tuberkulose starben und ausgewachsene Dalmatiner in Massen an Autobahnraststätten ausgesetzt wurden.


Weiterführende Infos und Quellen:

Wissenschaftliche Studie über Kindheit im zweiten Weltkrieg

T-Online-Artikel mit Interview mit Ingrid Müller-Münch, Autorin „Die geprügelte Generation“

Zeit-Artikel zum Thema Erziehung unter Hitler

Studie „Familienerziehung im Generationenvergleich“ an der Uni Osnabrück

 

Rebecca

Schon seit rund einer Dekade jongliere ich, mal mehr, mal weniger erfolgreich, das Dasein als Schreiberling und Mama. Diese zwei Pole machen mich aus und haben eines gemeinsam: emotionale Geschichten!

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