Haben Zwillinge wirklich schon im Bauch eine besonders enge Bindung?

Ilka Poth
Ilka Poth
-Expertin

Ilka Poth ist eineiiger Zwilling, ganzheitliche Life- und Familiencoachin sowie Kinder- und Jugendcoachin mit Zusatzausbildung in ganzheitlicher Strukturaufstellung und systemischem Arbeiten.

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Neulich habe ich das Ultraschallbild einer Mama gesehen, die mit Zwillingen schwanger ist. Und es sah tatsächlich so aus, als würden die Babys kuscheln. Niedlicher Zufall oder gar nicht so abwegig? Dass Zwillinge eine besonders enge Bindung haben, ist eine weitverbreitete Annahme, die in vielen Fällen auch stimmt. Aber woran liegt das eigentlich, und entsteht diese starke Verbundenheit wirklich schon vor der Geburt? Wir haben mit Zwillingsexpertin Ilka Poth gesprochen. Sie hat selbst eine Zwillingsschwester und sich deshalb ausführlich mit dem Thema beschäftigt. Außerdem verrät sie, warum die enge Bindung nicht bei allen Zwillingen bestehen bleibt, welchen Einfluss die Eltern darauf haben (können), und warum eine zu enge Bindung auch problematisch werden kann.

Liebe Ilka, haben Zwillinge wirklich eine engere Bindung als „normale“ Geschwister – und das schon vor der Geburt?

„Zwillinge haben eine sehr enge Bindung, die auch schon kurz nach der Geburt deutlich wird, zum Beispiel, wenn man beobachtet, wie sie sich aneinander kuscheln. Diese starke Verbindung beginnt bereits im Mutterleib. Zwillinge spüren, riechen und berühren sich, und sie kommunizieren in dieser Zeit sogar nonverbal miteinander. Gleichzeitig konkurrieren sie auch um Platz und gegebenenfalls um Nahrung. In dieser Phase erleben sie sich noch nicht als zwei eigenständige Wesen, sondern fühlen sich miteinander verschmolzen. Jeder sieht sich als Teil des anderen.

Diese frühe Verschmelzung bleibt im unbewussten Gedächtnis gespeichert, sodass sie sich später nicht bewusst an diese Zeit erinnern können, jedoch ein tiefes Gefühl der Verbundenheit spüren, das bleiben wird. Sie werden also mit einer lebenslangen Verbindung zu einem anderen Menschen geboren, sozusagen als „Ehepaar“ ohne Option auf Scheidung.“

Haben alle Zwillinge diese enge Bindung?

„Diese Bindung ist zu Beginn bei allen Zwillingen gleich stark und entwickelt sich bereits vor der Eltern-Kind-Bindung. Ob sie aber so stark bleibt, das hängt im Wesentlichen von der elterlichen Erziehung, ihren Interaktionsmustern mit den Zwillingen und den Umwelteinflüssen ab, denen die Kinder ausgesetzt sind. So beeinflusst der Erziehungsstil der Eltern bereits im Säuglings- und Kleinkindalter, wie sich die gemeinsame und die individuelle Identität ihrer Zwillinge entwickeln wird.

Eltern können also unbewusst die Entwicklung bestimmter Bindungsmuster fördern, die ihre Zwillinge ein Leben lang teilen werden. So gibt es Zwillinge, die eine sehr enge, symbiotische Bindung zueinander entwickeln. Andere hingegen werden sehr abhängig voneinander oder entwickeln eine gespaltene Beziehung zueinander. Diese Zwillinge fühlen als (junge) Erwachsene oft eine Art „Hass-Liebe“ zueinander und entfremden sich häufig.

Andere Zwillinge wiederum entwickeln eine individuelle Bindung, können als Erwachsene ein eigenständiges, unabhängiges Leben führen und trotzdem eine enge und gesunde Beziehung zueinander haben.“

Wie ist das bei Dir und Deiner Zwillingsschwester?

„Bei meiner Schwester und mir war es so, dass wir als Kinder eine sehr enge und abhängige Bindung hatten, die im Laufe der frühen Kindheit durch eine gespaltene Bindung ergänzt wurde. Im mittleren Erwachsenenalter veränderte sich unsere Bindung: Aus der Abhängigkeit entwickelte sich eine individuellere Bindung, die im Laufe der Jahre immer stärker wurde.

Die gespaltene Bindung wird zwar immer ein Teil von uns bleiben, sie dominiert heute jedoch nicht mehr so stark wie in der Pubertät und im jungen Erwachsenenalter. Außerdem habe ich gelernt, gut damit umzugehen.“

2. Die enge Bindung macht sich also schon vor der Geburt bemerkbar. Woran erkennt man sie denn bei Babys?

„Man erkennt diese enge Verbundenheit zum Beispiel daran, dass Zwillinge sich als Säuglinge nur sehr schwer bis gar nicht von ihren Eltern beruhigen lassen, wenn man sie voneinander trennt und sie weinen. Sie beruhigen sich meistens erst dann, wenn sie den anderen spüren oder sehen.

Bis etwa zum Alter von 1 ½ Jahre nehmen sich Zwillinge noch als eine Einheit wahr. In diesem Alter können sie sich noch nicht als eigenständige Individuen sehen, sondern erleben sich als Teil des anderen. Sie suchen die Nähe ihres Zwillings, kuscheln, beruhigen sich gegenseitig und kommunizieren auf ihre eigene Weise miteinander.“

3. Woran liegt es, dass Zwillinge eine engere Bindung haben als „normale“ Geschwister?

2Das liegt zum einen an der gemeinsamen und sehr intensiven Zeit im Mutterleib, in der Zwillinge ihre erste primäre Bindung zueinander entwickeln. Das unterscheidet sie von Einlingen, die ihre erste primäre Bindung nach der Geburt zu ihrer Mutter oder einer anderen Hauptbezugsperson aufbauen. Zwillinge erleben also schon vor der Geburt einen sehr engen und intimen Kontakt miteinander. Diese Bindung beeinflusst ihr gesamtes Leben.

Zwillinge haben eine eigene und eine gemeinsame Identität

„Aus der primären Bindung entwickelt sich nach der Geburt eine gemeinsame Identität. Auch das ist ein großer Unterschied zu Einlingen, die keine zwei Identitäten haben. Zwillinge haben sowohl eine gemeinsame als auch eine individuelle Identität, die sich gegenseitig beeinflussen und zu Konflikten führen können. Zum Beispiel wollen Zwillinge auf der einen Seite gerne zusammen und verbunden sein, auf der anderen Seite wollen sie ihre eigenen Wege gehen und autonom sein.

Die Zwillingsidentität schafft eine tiefere Verbindung zwischen Zwillingen, als es bei Geschwistern mit Altersunterschied der Fall ist.“

Zwillinge erleben viele wichtige Ereignisse gemeinsam

„Hinzu kommt, dass Zwillinge parallel aufwachsen und dadurch viele wichtige Situationen gemeinsam erleben, wie zum Beispiel der erste Kita- oder Schultag und familiäre Ereignisse. Das führt dazu, dass sie nicht nur ähnliche Erfahrungen, sondern auch gemeinsame Erinnerungen miteinander teilen.

Durch das Teilen der Eltern, der Lebenserfahrungen und Erinnerungen intensiviert sich ihre tiefe und früh entstandene Zwillingsbindung.“

4. Gibt es einen Unterschied zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingen?

Grundsätzlich gibt es direkt nach der Geburt keine Unterschiede in der Bindung zwischen ein- und zweieiigen Zwillingen, da alle Zwillinge eine sehr intensive und prägende Zeit im Mutterleib verbringen, zur gleichen Zeit geboren werden, parallel aufwachsen und alle Entwicklungsphasen zur gleichen Zeit durchleben. Sie entwickeln auch alle eine gemeinsame Identität.

Ein Unterschied ergibt sich jedoch durch die genetische Ähnlichkeit. Eineiige Zwillinge sind genetisch identisch, was bedeutet, dass sie nicht nur äußerlich sehr ähnlich sind, sondern häufig auch ähnliche Verhaltensweisen und Interessen haben. Bei zweieiigen Zwillingen ist das nicht unbedingt der Fall, da sie sich genetisch nicht mehr ähneln als andere Geschwister. Daher kann es sein, dass sich ihre Bindung im Laufe der Entwicklung von der Bindung eineiiger Zwillinge etwas unterscheidet.

Einige Studien legen nahe, dass eineiige Zwillingsmädchen die engste Bindung haben, gefolgt von eineiigen Zwillingsjungen. Danach kommen zweieiige gleichgeschlechtliche Mädchen, zweieiige gleichgeschlechtliche Jungen, und am Ende stehen die Junge-Mädchen-Zwillinge.“

Die Erfahrungen in der Kindheit spielen eine große Rolle

„Aus meiner Sicht kommt es jedoch sehr stark auf die Erfahrung an, die Zwillinge in ihrer (frühen) Kindheit gemacht haben, auf die elterliche Erziehung, deren Interaktionsmuster und das Umfeld, in dem sie aufwachsen.

So kommen zum Beispiel symbiotische und abhängige Bindungen häufiger bei eineiigen Zwillingen vor, während gespaltene Bindungen sehr oft sowohl bei eineiigen als auch bei zweieiigen Zwillingen beobachtet werden.

Eine individuelle Bindung entwickelt sich hingegen häufiger bei zweieiigen Zwillingen, besonders bei Junge-Mädchen-Zwillingen. Das liegt daran, dass Eltern sie aufgrund ihrer körperlichen oder äußerlichen Unterschiede und der unterschiedlichen Interessen eher als zwei eigenständige Wesen betrachten und auch so behandeln.“

Der Umgang der Eltern beeinflusst die Bindung von Zwillingen stark

„Es kommt also darauf an, wie Eltern mit ihren Zwillingen umgehen. Es ist wichtig, dass sie die Zwillingsbindung fördern, ohne sie zu überbetonen. Manche Eltern denken fälschlicherweise, dass sie die Bindung ihrer Zwillinge stärken müssen, indem sie ihre Kinder immer alles gemeinsam machen lassen. Das kann jedoch genau zum Gegenteil führen, was oft erst später, in der Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter, sichtbar wird.

Wenn zu Beispiel eineiige Zwillinge eine symbiotische und abhängige Bindung zueinander entwickeln und sich kaum bis gar nicht voneinander trennen können, finden Außenstehende das vielleicht süß und „typisch“ für eineiige Zwillinge, weil es dem Klischee entspricht. Doch das ist nicht unbedingt eine gesunde Bindung, da sie zu eng ist und die große Abhängigkeit voneinander dazu führen kann, dass sie später keine eigenen Leben führen und sich nicht voneinander trennen können. Solche Klischees entsprechen nicht der Norm und sollten kritisch hinterfragt werden.

Daher ist es wichtig, die individuellen Bedürfnisse und Persönlichkeiten der Zwillinge zu erkennen und zu fördern.

5. Sollten Eltern die enge Bindung ihrer Zwillinge also fördern – oder lieber nicht?

„Eltern sollten die Verbundenheit ihrer Zwillinge wertschätzen, respektieren und akzeptieren, aber sie nicht übermäßig fördern, weil sie von Beginn an vorhanden ist. Wenn Eltern es zu gut meinen und ihre Zwillinge alles gemeinsam machen lassen, ohne ihnen Raum für eigene, unabhängige Erfahrungen zu geben, kann das zu einer starken Abhängigkeit führen. Dadurch fördern sie nicht die gesunde Verbundenheit, sondern riskieren, dass die Bindung als junge Erwachsene leidet.

Die besondere Zwillingsbindung wird immer bestehen, aber entscheidend ist, wie Zwillinge später in der Lage sind, diese Bindung zu leben und gleichzeitig eigenständige Individuen zu sein.“

6. Wie kann man die Bindung von Zwillingen unterstützen, hast du Tipps?

  • Indem Zwillinge sowohl gemeinsame als auch getrennte Erfahrungen machen dürfen. So können sie ihre Zwillingsidentität leben und gleichzeitig ihre eigene Persönlichkeit entwickeln.
  • Sie sollten eigene und gemeinsame Freunde haben dürfen. Das fördert die Möglichkeit, zu lernen, eigene Beziehungen neben der Zwillingsbeziehung zu entwickeln.
  • Eltern sollten die Individualität ihrer Zwillinge fördern, indem sie die wahren Unterschiede der Kinder respektieren und unterstützen und keine künstlichen Unterschiede kreieren.
  • Es ist wichtig, dass Eltern mit ihren Zwillingen über ihre Beziehung sprechen und auch die Zwillinge untereinander ermutigen, über ihre Gefühle und Erlebnisse als Zwillinge zu reden.
  • Eltern sollten vermeiden, ihre Kinder gegeneinander auszuspielen oder sie mit Etiketten zu versehen, wie z.B. „der Sportliche“ und „der Musikalische“. Dadurch wird verhindert, dass konkurrierendes Verhalten unter den Zwillingen zusätzlich gefördert oder verstärkt wird.
  • Jeder Zwilling sollte eigene Entscheidungen treffen dürfen, ohne von seinem Zwilling beeinflusst zu werden.
  • Eltern sollten in Streitigkeiten nicht Partei ergreifen, sondern eine Moderationsrolle einnehmen und die Zwillinge dabei unterstützen, ihre Konflikte selbst zu lösen.
  • Es ist hilfreich, wenn Eltern mit ihren Zwillingen über die Besonderheit des Zwillingsseins und die damit verbundenen Herausforderungen sprechen. Das fördert das Verständnis für ihre besondere Beziehung.
  • Jeder Zwilling sollte mit seinen eigenen Herausforderungen ernst genommen und angehört werden, auch in Bezug auf die Zwillingsgemeinschaft.
  • Zwillinge sollten nicht gezwungen werden, zu viel zu teilen. Es ist wichtig, dass sie auch eigene, persönliche Besitztümer haben, um das Gefühl von Eigenständigkeit zu stärken.
  • Eltern sollten sich von bestehenden Zwillingsklischees befreien und die Erziehung ihrer Kinder dadurch nicht beeinflussen lassen.

Vielen Dank, liebe Ilka!

7. Mehr spannende Tipps & Infos für (zukünftige) Zwillingseltern

Du bist selbst Mama von Zwillingen oder gerade mit Zwillingen schwanger? Dann schau mal hier:

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Wiebke Tegtmeyer

Nordisch bei nature: Als echte Hamburger Deern ist und bleibt diese Stadt für mich die schönste der Welt. Hier lebe ich zusammen mit meinem Mann und unseren beiden Kindern. Nach meinem Bachelor in Medienkultur, einem Volontariat und einigen Jahren Erfahrung als (SEO-)Texterin bin ich passenderweise nach meiner zweiten Elternzeit bei Echte Mamas gelandet. Hier kann ich als SEO-Redakteurin meine Leidenschaft für Texte ausleben, und auch mein Herzensthema Social Media kommt nicht zu kurz. Dabei habe ich mich in den letzten Jahren intensiv mit dem Thema Ernährung von der Schwangerschaft über die Stillzeit bis hin zum Babybrei beschäftigt. Und wenn ihr auf der Suche nach einem Vornamen für euer Baby seid, kann ich euch garantiert passende Vorschläge liefern. Außerdem nutze ich die Bastel-Erfahrungen mit meinen beiden Kindern für einfache DIY-Anleitungen. Wenn der ganz normale Alltags-Wahnsinn als 2-fach Mama mich gerade mal nicht im Griff hat, fotografiere ich gern, gehe meiner Leidenschaft für Konzerte nach oder bin im Volksparkstadion zu finden.

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