„Ich habe nichts mehr!“
Aber wartet, lasst mich ausholen.
Tatsächlich habe ich nämlich alles. Eben nur nicht mehr mein altes Leben.
In dem ich gearbeitet habe, wann ich es wollte, mich in kleine Berliner Boutiquen begeben habe, um mir was zu gönnen und in Cafés und Kneipen gegangen bin, um zu schwelgen. Heute arbeite ich nach Plan und nicht mehr planlos und frei, wenn überhaupt. Selbst wenn die kleinen Boutiquen offen hätten – noch haben wir Corona und die wirtschaftlichen Implikationen nicht überwunden – könnte ich mir nichts mehr leisten und Cafés oder Kneipen? Naja, das könnt ihr euch ja denken.
Gerade sitze ich auf dem Sofa und schwelge in einer Tafel Schokolade – auch nicht schlecht.
Seit der Geburt meiner Tochter esse ich viel Schokolade.
Das ist schnelle Energie und auch ein bisschen Droge. Gut. Meine Arme schmerzen. Zwei von dreieinhalb Stunden, die meine Tochter gebraucht hat, um in ihren geliebten Mittagsschlaf zu fallen, habe ich sie getragen. Aber was sind schon gute 13 Kilo? Mein Mann schläft während meines „Martyriums“. Er hat sich einen Abend abseits unseres neuen Lebens gegönnt. Das muss auch mal sein.
Aber zurück zum Anfang dieser einen kleinen Episode im Spiel der Mutterschaft. Tick tack: Zwölf Stunden vorher
Es ist fast Mitternacht und ich gehe noch ein letztes Mal in das Zimmer meiner Tochter, um meine Hand auf ihre zu legen. Sie wimmert ein bisschen, genießt die Berührung und verschwindet wieder in ihre Traumwelt. Ich lege mich hin, immer bereit aufzuspringen, um wieder meine Hand und Wärme zu geben, damit sie schlafen kann. Und sie schläft. Es ist schon 5:50 Uhr, als sie schließlich das nächste Mal nach mir ruft. „Mama, Mi.“ Meine Tochter will eine Milch. Was eigentlich nur als Teil des Einschlafrituals fungiert, wird kurzerhand zum Frühstückstrick – denke ich zumindest. Was sie sonst einschläfert, macht sie wach.
Tagesbeginn also 5:50 Uhr. Okay. Wir schleichen uns in die Küche und schließen die Tür, damit mein Mann nicht aufwacht.
Laut Handy war er erst um 3:00 Uhr im Bett. Nur drei Stunden später mit Kaffee und Kater bei uns sitzen? Nicht machbar. Auf dem Frühstücksplan stehen aufgebackene Croissants und Rührei mit Tomaten. Meine Tochter haut rein. Wenn sie könnte, würde sie eine ganze Packung Eier vertilgen. Sie isst mit Leidenschaft wie ich auch. Nichts Ungewöhnliches an diesem schönen Sommermorgen also. Nach zweieinhalb Stunden machen wir uns – dann doch zu dritt – zu einem kurzen Einkaufsbummel in eine Drogerie auf und gehen danach noch auf einen Abstecher zu unserem Stamm-Spielplatz. Mein Mann geht heim und legt sich noch einmal hin.
Auf der Zielgeraden Es folgt: Toben, Klettern, Jauchzen und dann… Jaulen.
Das Smartphone zeigt 10:00 Uhr. Ab nach Hause. Die Nacht meiner Tochter war kürzer als sonst. Vermutlich ist sie müde, denke ich. In unserer Wohnung angekommen, trage ich sie. Und ich trage und trage und trage sie – nur leider nicht in den Schlaf. Nach einer Stunde gebe ich auf. Sie schläft zwar immer wieder ein, aber sobald ich sie in ihr Bett lege, weint sie. Wieder will sie unbedingt eine Milch. Da ich mich auch sonst nicht so an erzieherische „Regularien“ halte (eigentlich sollte sie gar keine Milch mehr bekommen, ich weiß …), mache ich ihr kurzerhand noch eine. Dann gibt es noch Frühstücksflocken. Es folgt Schlepparie Nummer zwei.
Eine Stunde vergeht. Mein Körper wehrt sich, mein Geist wehrt sich und meine Tochter auch – immer noch dagegen, dass ich sie ablege.
Ich merke, wie die Wut langsam in mir hochkocht. Eine verrückte Nervosität kratzt an meinem Nervenkostüm. Ich mache Laute, um die Energie abzulassen und frage mich, ob mein Mann das nicht hört. Wo ist mein Mann nach drei Stunden, wo meine Energie, wo meine Geduld? Nachdem ich in unser Schlafzimmer gestapft bin, um meinen Mann zu wecken, drücke ich ihm unsere Tochter sauer in den Arm und lasse mich aufs Bett fallen. Jetzt ist er dran. Es tönt nach kurzer Zeit, was tönen muss: „Maaaamaaaaa!“ Egal, wie müde ich auch bin, wie sehr mir meine Arme wehtun und sich mein Köper auch gegen die Schlepperei wehrt, ich gehe zurück in ihr Zimmer und reiße sie an mich. „Sie will Mama“, fauche ich meinen Mann an und laufe wieder hin und her, wippe auf und ab.
Wer bin ich? Der Kampf von alt und neu
In Gedanken gehe ich den Tag durch, den wir geplant hatten. Aber nichts läuft mehr nach Plan. Da passiert es. „Es“, die schwerwiegenden Worte, verlassen meinen Mund. „Ich habe nichts mehr“, jaule nun ich und meine damit Geld. Geld, mit dem ich nach einer solch anstrengenden Session einfach in den Kiez gehen könnte – in der einen Hand ein Gin & Tonic in der anderen eine Tüte Nichts. Die Worte wiegen schwer. Sie beschweren mein Herz. Manchmal überfällt es mich, das alte Ich und die Sehnsucht nach dem Nichts, obwohl ich doch alles habe.
Zum Beispiel ein Tragesystem, mit dem mein Mann zu mir geeilt kommt. Das hatte ich schon längst in den Untiefen meines Kleiderschranks vergraben. Doch noch kein Relikt und die beste Ausgrabung seit Ewigkeiten.
Mein Mann weiß, dass meine Worte nicht mehr bedeuten als: „Ich bin müde, bitte hilf mir“. Trotzdem schäme ich mich.
Irgendwann endlich schläft meine Tochter ein. Nur 30 Minuten, aber immerhin. Das schlechte Gewissen für den gedanklichen Trip in die Vergangenheit allerdings, das hält an und hat mich fest im Griff. Denn nichts würde ich an meinem Leben ändern wollen. Das weiß auch dieses rudimentäre Ich vergangener Tage. Fragt sich nur, wann es endlich mal die Klappe hält.
Liebe Nadine, vielen Dank für deinen Gasttext!
Ende Oktober 2019 ist Nadine Filko Mutter einer Tochter geworden und hält seither als Autorin und Journalistin in Berlin die einschneidendsten Erlebnisse ihrer Transformation zur Mutter in Form von Anekdoten fest. In ihrem Buch „Milchkoma. Mutterschaft unzensiert: Anekdoten aus dem ersten Babyjahr“ (Affiliate Link) fasst sie auf humorvolle Weise intime Augenblicke von der Geburt bis zum ersten Geburtstag zusammen und gewährt einen ehrlichen Blick hinter die Kulissen der Elternschaft.