Nancy Wienberg hat in ihrer Schwangerschaft eine ziemlich große Überraschung erlebt: Der Labortest kündigte ihr einen Sohn an. Aber der Ultraschall zeigte zweifellos eine Tochter. Heraus kam: Nancys Tochter ist genetisch ein Junge, hormonell aber ein Mädchen mit primären, weiblichen Geschlechtsteilen. Wie sie als Eltern damit umgehen und welche Herausforderungen damit verbunden sind, erzählt sie uns in ihrer Echten Geschichte.
Ich war 41 Jahre alt, als ich mit unserem zweiten Kind schwanger wurde. Weil mein Schatz und ich beide nicht mehr die Jüngsten sind, habe ich einen sogenannten NIP-Test gemacht, um Trisomie auszuschließen, wie bei unserem älteren Sohn auch schon. Nur wollten wir bei unserem Sohn das Geschlecht damals nicht wissen. (Anm. d. Red.: Bei diesem Nicht-Invasiven Pränatal-Test kann man gleichzeitig das Geschlecht testen lassen, muss man aber nicht).
Aber diesmal dachten wir, eine große Familienfeier stand an, ach komm, wir machen das mal mit und verkünden dort, was es wird.
Ich habe mich auf einen Jungen gefreut, mein Schatz sich auf ein Mädchen. Also haben wir die Geschlechtsbestimmung mitbeauftragt und auf der Feier mit Konfettibombe verkündet:
Es wird ein Junge!
Mein Schatz hat sofort gesagt: Das stimmt nicht, es wird ein Mädchen.
Aber das konnte ja nicht sein – denn der NIP-Test lügt ja nicht. Trotzdem bin ich nochmal zur Frauenärztin gegangen und habe einen weiteren Ultraschall machen lassen. Sie sagte:
„Das ist eindeutig ein Mädchen.“
Ich hab einfach lauthals losgelacht.
Meine Frauenärztin konnte das auch nicht glauben. Sie meinte, der Test muss falsch gewesen sein, da gab es bestimmt einen Fehler im Labor. Also wurde nochmal Blut abgenommen, das ganze Prozedere nochmal von vorne.
Und wieder sagte der Test: Es wird ein Junge.
Das war meiner Frauenärztin auch noch nie passiert.
Die Wahrscheinlichkeit, dass beides zutrifft, liegt so bei 1:20.0000.
Wir wissen auch noch nicht, was uns genau erwartet. Wir haben erst demnächst einen Termin beim Endokrinologen, um herauszufinden, wie unsere Tochter im Inneren entwickelt ist.
Vor dem Kaiserschnitt meinte der Arzt zu mir:
“Wenn das Geschlecht optisch nicht eindeutig zuzuordnen ist, muss ich “divers” ankreuzen. Wir müssen abwarten, was rauskommt.”
Meine erste Frage nach der Geburt war dann natürlich: Und, wie sieht es aus?
Zum Glück waren die Ärzte, Hebammen und Schwestern in meiner Klinik so lieb! Die sind ganz toll damit umgegangen – obwohl sie mit der Situation auch überfordert waren, weil das so selten vorkommt. Wir haben in der Schwangerschaft schon erfahren, dass unsere Tochter vermutlich keinen Uterus hat und später selbst keine Kinder austragen können wird.
Ob ein Uterus vorhanden war, konnte aber erst nach der Geburt untersucht werden.
Als dann im Krankenhaus bei meiner Tochter tatsächlich festgestellt wurde, dass der Uterus fehlt, konnte ich zwar endlich einen Haken an das Thema machen.
Aber ich war auch sehr emotional.
Der Moment nach der Geburt ist ja sowieso schon so ein hormoneller Ausnahmezustand. Und dann erfährst du noch, deinem Kind fehlt ein Organ, und es wird wahrscheinlich keine eigenen Kinder bekommen können.
Damit musst du auch erstmal umgehen lernen! Wenn da vorher noch die kleine Hoffnung war, dass es doch ein Fehler gewesen sein könnte.
Es hat schon gedauert, darüber hinwegzukommen. Aber gleichzeitig denke ich: Es gibt so viele da draußen, bei denen es genauso ist. Und die das nicht mal ahnen, weil es jahrelang gar nicht untersucht und entdeckt wird.
Die Dunkelziffer muss hoch sein.
Denn das fällt ja oft gar nicht auf. Die Tests muss man ja meistens selbst bezahlen. Das sind 200 Euro pro Test – das kann sich gar nicht jeder leisten. Für die Geschlechtsbestimmung kamen noch mal 15 Euro extra oben drauf. Der Test wird ja nur dann von der Krankenkasse übernommen, wenn es eine medizinische Indikation gibt oder genetische Vorerkrankungen in der Familie.
Fest steht: Ohne den NIP-Test hätte meine Frauenärztin ein Mädchen angekündigt.
Und wir hätten nach der Geburt jahrelang gar nicht gemerkt, dass sie genetisch ein Junge ist.
Es wäre uns wahrscheinlich erst im Teenageralter aufgefallen, wenn die Stimme plötzlich tiefer wird und die Periode ausbleibt, vermehrt Körperbehaarung auftritt, sich kein Busen entwickelt und so weiter. Das sind mögliche Auswirkungen, von denen mir Betroffene erzählt haben. Die können aber ganz unterschiedlich ausfallen.
Ich kenne zum Beispiel auch einen Fall, da hat ein Mädchen Hoden im Bauchraum entwickelt. Die wurden aber erst bei einer ganz anderen Operation entdeckt.
Früher haben Ärzte dann einfach entschieden, sowas wegzuschneiden.
Weil es ja nicht zu dem Mädchen gehört. Das ist heute zum Glück rechtlich nicht mehr möglich. Heutzutage sind die Kinder davor geschützt. Auch Eltern dürfen nicht mehr ohne Weiteres darüber entscheiden, bis das Kind seine Geschlechtsidentität entwickelt hat.
Das wäre ja schlimm – wenn ich mir vorstelle, mein Kind entwickelt sich in Richtung Junge, und ich müsste ihr am Ende sagen:
„Ja, du hattest auch mal Geschlechtsteile eines Jungen, aber die haben wir entfernen lassen.“
Oh Gott, nein! Damit gehen wir ganz anders um.
Und ich finde, unsere Tochter hat sich mit uns genau die richtige Familie ausgesucht.
Wir sind ja sowieso schon keine so ganz “normale” Familie. Bei uns ist eh alles etwas verrückt. Warum sollten wir damit also nicht umgehen können?
Mein Schatz und ich haben uns auf Instagram kennengelernt, er ist Franzose. Er spricht mit den Kindern Französisch, ich Deutsch. Wir haben direkt gesagt: Wir bekommen zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Wir haben einen verrückten Kater und drei Hunde, leben im Sommer im Garten, ich bin Ergotherapeutin.
Unsere Tochter ist bei uns in der richtigen Umgebung mit Eltern, die sie einfach so annehmen, wie sie ist.
Aber in meiner Community gab es schon ziemlich viel Gegenwind.
Nach der Sache mit dem Test und dem Ultraschall habe ich gegoogelt und versucht, Erfahrungsberichte zu finden. Aber ich habe nur einen gefunden – es gab dazu viel zu wenig im Netz.
Deshalb ist das für mich auch so ein Herzensthema, darüber aufzuklären, wie viele Geschlechter es in der Realität gibt.
Ich hatte ja schon meine Follower auf Instagram und habe die damals gleich auf unsere Reise mitgenommen. Sie hatten schon meine erste Schwangerschaft mitverfolgt – also dachte ich, ich spreche einfach ganz offen darüber, dass wir nun nicht so genau wissen, was es wird: Junge, Mädchen, oder etwas dazwischen?
Erstaunlich fand ich: Der Gegenwind kam oft von sehr jungen Leuten, die sehr auf Datenschutz und Persönlichkeitsrechte fokussiert sind und mir sagen wollen…
„Darüber darfst du nicht reden, sonst wird dein Kind später ausgegrenzt!“
Ich kenne tatsächlich auch einen Fall, da traut sich die Mama deswegen überhaupt nicht, darüber zu sprechen.
Außerhalb ihres Freundeskreises weiß niemand davon, weil sie sich vor den Konsequenzen für ihr Kind fürchtet. Ich kann das schon verstehen, aber ich denke gleichzeitig: Dann wächst das Kind schon mit diesem Bewusstsein auf, sich verstecken zu müssen, weil es als “nicht normal” gilt.
Ich erziehe meine Tochter lieber als eine starke Frau, die sagt: “Hier bin ich, nehmt mich, wie ich bin oder lasst es bleiben.”
Wenn sie daraufhin Ablehung erfährt, muss man sich doch eher Gedanken machen, ob man sein Kind im richtigen Umfeld großzieht, das mein Kind diskriminiert. Das wäre dann doch das Erste, was man ändern würde, anstatt sich zu verstellen und zurückzuziehen. Deshalb setze ich mich auf meinen Kanälen so für dieses Thema ein.
Aber allein das Wort “Genital” auf Social Media zu erwähnen, ist schon zu viel.
Direkt unter unserem ersten Reel, in dem wir über das Geschlechtsthema und den Stand der Dinge sprechen, gab es eine riesen Welle. Damit habe ich nicht gerechnet und gedacht:
„Wow, die sind aber alle ganz schön schlecht informiert. Für die gibt es nur Männlein und Weiblein, und dabei ist da noch so viel mehr.“
Aber das gilt nicht nur für die Leute auf Instagram – selbst die Ärzte müssen erstmal nachschlagen, was ist das jetzt und was bedeutet das?
Ich habe mich oft gefragt: Warum weiß keiner mehr darüber? Ich leiste mit meinen Kanälen (nicht nur auf Instagram, wir haben auch eine WhatsApp-Gruppe gegründet) inzwischen sehr viel Aufklärungsarbeit zu dem Thema und bringe Betroffene zusammen.
Am meisten freue ich mich, wenn sich betroffene, erwachsene Frauen direkt bei mir melden.
Es ist so wichtig, darüber zu reden, sich auszutauschen und zu erfahren, was hätten sich Betroffene gewünscht. Vor allem, was den Umgang von Eltern und Ärzten mit dem Thema betrifft. Was hätten sie gern früher gewusst, um als Erwachsene besser mit allem umgehen zu können? Wie ist das für sie, keine Kinder bekommen zu können, wann haben die Eltern ihnen davon erzählt – und das alles.
Die sind auch ganz ganz offen und sagen, ich möchte auch gerne helfen.
Und das hilft wiederum allen Mamas sehr, die gerade erst davon erfahren haben und vielleicht noch in einem Stadium feststecken, in dem sie selber noch nicht so gut damit klar kommen. Ich spreche viel in meinen Reels und Stories auf Instagram darüber und beantworte Fragen – aber einigen ist das wirklich zuviel.
Ein heißes Eisen war auf meinem Instagram-Kanal zum Beispiel die Frage: Warum gebt ihr eurem Kind keinen neutralen Namen?
Dazu habe ich eine ganz klare Position: Weil ich denke, dass dieses “geschlechtsneutrale Erziehen” ein Märchen ist. Dein Kind macht sowieso, was es will! Du kannst das nicht Äußerlichkeiten beeinflussen. Nur, weil mein Junge eine Babypuppe rumträgt, einen Unisex-Namen hat und nur neutrale Farben anzieht – deshalb erziehe ich ihn noch lange nicht neutral.
Gegenfrage: Wie soll mein Kind eine Geschlechtsidentität entwickeln und wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, wenn es nie eine dieser Rollen ausfüllen durfte?
Wir nehmen doch alle bestimmte Rollen ein und beurteilen dann daraufhin: Passe ich da rein oder nicht? Heute kann uns die kleine Maus noch nicht sagen, ob sie sich als Mädchen oder als Junge fühlt. Wenn sie später lieber ein Junge sein möchte, und wir merken, es geht in diese Richtung, dann würden wir niemals darauf beharren, dass sie ein Mädchen bleiben muss. Dann tun wir alles, um ihr in dieser Richtung zu helfen.
Wichtig ist mir auch, zu sagen: Die Genetik bestimmt genauso wenig, wie wir uns fühlen.
Da fehlt es total an Aufklärung: Es sind doch nicht alleine die Gene, die bestimmen, ob wir uns als Frau oder Mann sehen, da spielt doch noch so viel mehr mit rein. Nur durch die Chromosomen entwickelt man auch noch lange keine Geschlechtsidentität.
Und dann ist sie halt am Ende mein Maximilian – mal schauen, wer letztlich Recht behält, mein Schatz oder ich.
Ich hab schon beim Frauenarzt immer gesagt: In der ersten Hälfte bekommt er sein Mädchen, in der zweiten ich meinen Jungen. Wir haben das von Beginn an auch mit Humor genommen. Ich gebe nicht so viel darauf, wie die anderen unsere Haltung finden.
Wichtiger finde ich, was Betroffene über unseren Weg denken. Und die haben mir gezeigt: Ihr macht das genau richtig so, sie als Mädchen anzunehmen, offen zu kommunizieren, was los ist und abzuwarten.
Im Teenageralter wird sie später sowieso nicht wissen, wo oben und unten ist – wenn man ihr dann noch sagt: Und jetzt darfst du dir auch noch ein Geschlecht aussuchen, dann ist sie ja total überfordert.
Wann wir ihr davon erzählen werden, kann ich heute noch gar nicht abschätzen.
Sie ist ja erst zweieinhalb Monate alt. Ich muss mein Kind ja erstmal kennen und sehen, wie es sich entwickelt. Aber natürlich bleibe ich darüber auch im Austausch mit anderen und schaue mir an, wann die das gemacht haben und wäge dann ab.
Was ich schon weiß: Wir müssen ihre Entwicklung etwas genauer im Auge behalten.
Andere Mamas haben mir erzählt, dass sie ein Mal pro Jahr zur Kontrolle fahren – und dank unserer WhatsApp-Community weiß ich zum Beispiel auch, dass in Lübeck eine der besten Anlaufstellen dafür sitzt. Dabei hat mir unser Austausch schon so sehr geholfen, ansonsten wären wir bestimmt erst an den falschen Stellen gelandet – denn so viele Spezialisten, die sich damit auskennen, gibt es ja bundesweit nicht.
Dann werden wir erfahren, um welchen Typ es sich handelt.
Hat sie Hoden oder nicht, welche weiblichen Organe sind vorhanden, in welche Richtung wird ihre körperliche Entwicklung gehen?
- Hat sie zum Beispiel das sogenannte Swyer-Syndrom (symptomatisch hierfür: „männliche XY-Chromosomen, aber „weibliche“ Genitalien mit Vagina, Uterus und Eileiter sowie oft ausbleibende Pubertät, Anm. d. Red.)?
- Dann gibt es zum Beispiel noch das Klinefelter-Syndrom (ein Junge hat zwei X-Chromosomen und ein Y-Chromosom, also XXY, Anm. d. Red.), das oft zu Entwicklungsverzögerungen führt.
- Wird sie mehr Körperbehaarung haben?
- Muss sie täglich Hormone nehmen?
- Wird sie im Teenageralter ihre Periode bekommen oder nicht?
- Es kann auch sein, dass ihre Scheide zu kurz ist und sie keine normale Sexualität haben kann, und dass wir hier operativ etwas machen lassen müssen.
Das ist schon komisch, sich als Mama jetzt schon Gedanken darüber machen zu müssen, ob sie später Sex haben kann, und was wir tun können, damit es ihr leichter fällt. Aber es muss ja sein.
All diese Dinge, die eventuell eintreten können, habe ich nur über Betroffene mitbekommen, die sich in meiner Community mitteilen.
Es gibt dazu kein Infoblatt, das man ausgehändigt bekommt und das einen informiert, was theoretisch alles sein könnte und wie man am besten darauf reagiert. Deshalb bin ich auch so dankbar dafür, dass in meiner Community erwachsene Betroffene bereitwillig erzählen, was alles möglich ist. Sonst wüsste ich viel zu wenig darüber.
Bisher wächst der kleine Mops zum Glück ohne Ende, aber ein bisschen genauer hinsehen müssen wir schon.
Als Ergotherapeutin schaue ich natürlich auch genauer darauf, ob sie andere kognitive Einschränkungen hat.
Kommt da motorisch noch was auf uns zu? Momentan sieht alles normal aus – aber auch im Hinblick darauf hat sie sich die richtige Mama mit mir ausgesucht, ich kenne mich damit aus und kann beurteilen, ob sie altersgemäß entwickelt ist. Das ist natürlich auch ein großer Vorteil.
Was ich zum Schluss noch unbedingt sagen und auch durch meine Communities zeigen möchte:
Es gibt eben nicht nur Männlein und Weiblein, sondern auch Kinder, die genetisch ganz, ganz anders sind.
Ich würde mir wünschen, dass diese Überprüfung, durch die wir das zufällig herausgefunden haben, standardmäßig stattfindet. Und dass viel mehr darüber aufgeklärt wird, wie das entsteht – ist das eine “Laune der Natur”, liegt das in der Genetik verankert, wird also familiär weitergegeben oder nicht?
Dass der NIP-Test für alle zugänglich und kostenlos ist, wäre also ein guter Anfang, um überhaupt zu erkennen, ob das eigene Kind davon betroffen ist und von Beginn an die Weichen besser stellen zu können.
Und natürlich wünsche ich mir, dass wir offen darüber sprechen können, ohne, dass unsere betroffenen Kinder diskriminiert werden. Dazu möchte ich mit meiner Offenheit auf meinen Kanälen einen Beitrag leisten.
Vielen Dank, liebe Nancy, dass du deine Erfahrungen mit uns so offen teilst.
Wenn ihr noch mehr darüber erfahren möchtet, findet ihr Nancys Instagram-Kanal hier: @therapieprinz
Echte Geschichten protokollieren die geschilderten persönlichen Erfahrungen von Eltern aus unserer Community.
WIR FREUEN UNS AUF DEINE GESCHICHTE!
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