„Lange spürte ich: Mein Pflegesohn braucht etwas, das ich ihm nicht geben kann.“

Lilly Kolbow ist bekannt als lillyswelt auf Instagram und Youtube. Gemeinsam mit ihrem Mann Marvin hat sie sich dazu entschieden, zu ihren beiden Kindern noch ein Pflegekind aufzunehmen, und zwar ein Baby.

Natürlich ist so eine Entscheidung mit ganz vielen Gefühlen, Veränderungen und auch bürokratischen Hindernissen verbunden. In unserem Podcast „Ehrlich gesagt.“ hat Lilly Nora ihre berührende Geschichte erzählt.

Hier könnt ihr den ganzen Podcast hören:

Und hier lest ihr, wie es dazu kam, dass Lillys Familie ein neues Mitglied aufnahm – und wie sich das anfühlte:

„Als mein Mann und ich uns kennengelernt haben, habe ich schnell gemerkt, dass wir dieselbe Lebensmission teilen. Mein Herz hat schon immer für die Bedürftigen auf unserem Planeten geschlagen, vor allen Dingen für Kinder und Jugendliche. Dann hat sich noch herausgestellt, dass Marvin selbst einige Jahre im Kinderheim groß geworden und zeitweise in Pflegefamilien untergebracht war. Wir haben entschieden: Wenn wir zusammenbleiben, dann wollen wir uns ein Leben aufbauen, in dem wir Kindern in irgendeiner Form ein Zuhause geben.

Zuerst dachten wir eigentlich, wir wandern aus nach Afrika. Bauen da Kinderheime auf und so. Das war unser großer Traum! Dann waren wir auch dort, für fast drei Monate in Mosambik. Aber das war einfach nicht unseres. Ich habe gemerkt, ich bin in Deutschland zu Hause und will nach Deutschland.

Das hieß ja aber nicht, dass unser Herzenswunsch nicht anders ausgelebt werden kann. Er hat sich dann aber erstmal verschoben, denn wir haben selber Kinder gekriegt.

Zusätzlich haben wir auch noch so einen Job gehabt, der ein bisschen crazy war. Wir sind durch Deutschland gereist mit unseren Kindern und haben Kindercamps veranstaltet. Wir kamen irgendwie nie zur Ruhe. Unser Leben war einfach schon immer so bisschen wild und bunt.

Aber trotzdem, dieser Herzenswunsch, Kindern ein Zuhause zu geben, der war immer da. Und wir wussten: Eines Tages wird es kommen. In irgendeiner Form werden sich Türen öffnen, dass wir Kinder aufnehmen.

Und dann haben wir unser Haus gebaut. Wir sind so richtige Landeier geworden und wohnen jetzt auf dem Dorf. Und wir haben gemerkt, hey, unser Leben war so anstrengend. Und jetzt müssen wir ankommen und einfach mal chillen, einfach mal Familie sein.

Das hat aber nicht lange angehalten.

Vernünftig war es nicht, wir hatten unser Grundstück noch gar nicht ganz fertig und so weiter, aber unsere Herzen holten uns immer ein. Es hat in uns gebrodelt, wir bekommen das einfach nicht hin, mal die Füße stillzuhalten. Deswegen hab ich gesagt: ,Komm, wir gehen das Thema jetzt einfach mal an!` Wenn man Pflegefamilie werden will, geht man beim Jugendamt zu einem Infoabend und wird dann, wenn man Interesse hat, danach geschult.

Meine Kinder (jetzt neun und elf Jahre alt) waren zu dem Zeitpunkt schon in der Schule und somit zumindest ein bisschen selbstständiger. Das war mir wichtig – und auch, dass ich nur ein Pflegekind aufnehmen möchte, das ein Baby ist.

Foto. David Neumann

Ich hatte Schiss davor, wie vorbelastet ältere Kinder schon sein könnten. Aber natürlich können auch Babys vorbelastet sein, das haben wir schnell gemerkt.

Man darf nicht unterschätzen, was Kinder in dem Bauch der Mama schon alles mitkriegen. Sowohl körperlich als auch seelisch, geistig.

Als sich für uns alles gut anfühlte, haben wir uns zunächst beim Jugendamt für die Bereitschaftspflege registrieren lassen, Das heißt, dass das Amt jederzeit anrufen kann und sagen, als ein Beispiel: ,Wir haben hier ein Baby im Krankenhaus, die Mama ist abgehauen. Bitte holt es jetzt ab!` Du weißt nicht, was für ein Geschlecht das Kind hat, was es für eine Vorgeschichte hat… Und dann hast du einfach, ohne dass du es neun Monate ausgetragen hast, ein Kind da.

Und Bereitschaftspflege bedeutet auch, du begleitest ein Kind in einer Phase, in der sich vieles klären muss: ,Kann das Kind wieder zurück zur Mutter? Wenn nicht zur Mutter, kann das Kind vielleicht zum Vater? Gibt es andere Familienangehörige, wo das Kind einfach rechtmäßig auch leben dürfte? In diesen Prozessen gibt es oft viele Gerichtsverhandlungen. Und dann begleitet du das Kind entweder wieder zurück in die Ursprungsfamilie oder in dieser Zeit wird entschieden, das Kind kann nicht mehr zurück in die Familie und braucht eine Langzeitpflegefamilie.

Das haben wir drei Mal durchgemacht. Wir hatten uns dafür entschieden, weil wir dachten, wir haben Angst davor, ein Kind auf Langzeit aufzunehmen. Wir hatten wirklich Respekt davor, weil das bedeutet, das Kind mindestens 18 Jahre lang zu begleiten, nicht zu wissen, was auf einen zukommt und einfach unser komplettes Familienleben über Bord zu werfen.

Und dann holten wir das Kind ab, das jetzt unser Langzeit-Pflegesohn ist. Es war nicht geplant, aber wir haben ihn aus der Klinik abgeholt – und gesehen, wie es ihm ging.

Es ging ihm gar nicht gut. Ich hab Marvin angeschaut und irgendwie haben wir beide gespürt, dass dieses Kind bleibt und wir seine Familie werden. Marvin hat ihn auf den Arm genommen und gesagt: ,Ich habe das Gefühl, dass er bleibt!` Und ich hatte das auch. Ich hatte aber Angst, das laut auszusprechen. Weil ich Angst davor hatte, dass, wenn wir uns in ihn verlieben, wir das überhaupt nicht überleben können, wenn er dann mal später weg muss von uns.

Ich darf und möchte seine Geschichte nicht erzählen. Aber Fakt ist, wir mussten einen harten Weg mit ihm gehen – Kinder werden ja nicht umsonst aus ihrer leiblichen Familie geholt.

Ich kann viel aushalten, bin eine starke Person. Aber als es so schwierig war mit ihm, war es das erste Mal in meinem Leben, dass ich dachte: ,Ich schaffe es nicht.“ Ich konnte ihn nicht beruhigen, ich spürte, er brauchte etwas, das ich ihm nicht geben konnte.

Und dieses Gefühl: Ich liebe ihn wie eine Mutter, aber ich bin nicht seine Mutter! Du musst das jetzt aushalten können.

Denn nach der Geburt musst du dich doch ein bisschen herantasten an das, was dein Kind braucht. Aber irgendwann weißt du es. Du spürst dein Kind. Und als Pflege-Mama ist das so, du musst das Kind erst richtig, richtig kennenlernen, um es zu spüren. Und ich habe ihn am Anfang auch nicht nicht gespürt. Ich hatte keine Ahnung, was er durchgemacht hat im Bauch, was seine Bedürfnisse waren. Ich wusste es nicht.

Und er hat sich so durchs Leben gequält und ich konnte ihm einfach nicht helfen und ich wusste nicht, was er braucht. Das war so hart für mich.

Irgendwann haben wir aber professionelle Hilfe bekommen und heute sind wir ganz anders aufgestellt. Er ist jetzt ein Jahr und drei Monate alt und entwickelt sich toll. Jetzt erst, muss ich ganz ehrlich sagen, kommt das, wovon ich eben gesprochen habe: Jetzt fühle ich ihn. Jetzt weiß ich, was er braucht. Jetzt kenne ich ihn. Aber ich musste ihn halt erst kennenlernen und es brauchte seine Zeit und ich musste das akzeptieren.

Foto: David Neumann

Während dieser schwierigen, langen Phase schwankten wir zwischen ,Unsere Grenze ist erreicht, wir überleben das nicht!`und immer weiter wachsender Empathie für ihn.

Ich stand kurz vorm Burnout und wir wussten: Irgendwas in unserem Leben müssen wir ändern, so können wir nicht weitermachen. Aber wir sind ,all in` für ihn. Wir können uns ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen und wir wollen ihm das auch nicht mehr antun, uns von ihm zu trennen. Weil wir merken, jetzt kommt er an. Wir sind jetzt sein Zuhause. Wenn wir ihm das jetzt nehmen würden, wären wir richtig dumm. Und deswegen haben wir gesagt, müssen wir unser Leben umstellen.

Er muss deutlich mehr gefördert werden als unsere anderen Kinder. Wir können nicht mehr so weitermachen, wie wir davor gelebt haben. Deswegen haben wir wirklich radikal Dinge aus unserem Leben rausgeschmissen, um mehr präsent zu sein in der Familie. Einfach, um das gut zu machen und da zu sein, ihn aufzufangen. Wenn wir einfach so weitermachen würden, dann würden wir alle kaputtgehen.

Meine eigenen Kinder sind unglaublich. Sie waren die ganze Zeit über mit eingebunden, na klar.

Ich hatte immer Angst davor, dass sie hinten runterfallen und ich hatte meine Probleme damit, dass ich ihnen gegenüber ganz oft ein schlechtes Gewissen hatte. Denn im letzten Jahr war meine Aufmerksamkeit doch sehr bei unserem Pflegekind. Ich habe ihn ins Bett gebracht, es hat manchmal ewig gedauert und dann komme ich aus seinem Zimmer und meine Großen schlafen schon. Ich bin so oft mit einem schlechten Gewissen ins Bett gegangen, weil ich dachte, ich war für meine Kinder nicht da. Ich hab mich so oft schlecht gefühlt und mich so oft entschuldigt bei meinen Kindern.

Und die haben einfach immer gesagt: ,Mama. Das ist doch alles okay. Du bist doch eine gute Mama. Du bist doch für uns da. Und wir sehen das gar nicht so wie du!‘ Ich habe immer nachgefragt, weil ich immer, ich wusste, das ist nicht mein Anspruch. Ich will viel mehr für meine eigenen Kinder da sein. Und so wie das ist, wollte ich einfach eigentlich nicht, dass es wird. Ich wollte das nicht. Und jetzt ist es doch so gekommen, dass der Kleine hier die Priorität halt irgendwie hat. Weil er ist ja voll auf mich angewiesen.

Ich kann nicht sagen: ,Warte jetzt mal ganz kurz, ich muss mich jetzt meine Tochter kümmern, weil die ihre Hausaufgaben machen muss!´ oder so. Sondern nein, ich übe mit meiner Tochter Mathe und daneben ist das Kind, das schreit. Sie ist dann schon genervt von ihm. Sie fühlt es auch voll, dass es mich dann auch belastet.

Meine Kinder sind extrem empathisch und eher sehr verständnisvoll. Sie sagen immer: ,Mama, ist doch gar kein Problem. Er ist doch wie unser Bruder!`

Sie werden in ihrem Leben richtig was reißen, sie haben so ein großes Herz und können sich wirklich zurückstellen. Und ich will aber eigentlich gar nicht, dass sie sich so zurückstellen! Aber meine empfinden das als gar nicht so schwierig. Und da merke ich auch: ,Hey, wir sind dafür gemacht. Und meine Kinder sind auch dafür gemacht!‘ Sie können das aushalten, haben überhaupt kein Konkurrenzdenken. Sie lieben ihren Pflegebruder über alles, ihr kleiner Bruder und sie spielen mit ihm. Wenn ich mal duschen bin, kann ich meiner Großen ihn auch mal für ein paar Minuten anvertrauen. Das klappt ohne Probleme, weil sie auch ein Mutterherz hat. Und ich feier meine Kinder echt richtig hart. Sie sind richtig, sie sind einfach Hammer.

Vielleicht kommt das irgendwann mal noch. Weißt du, vielleicht kommt das ja noch, dass sie mir dann Vorwürfe machen und sagen: ,Du warst immer nur für ihn da und für uns nicht.‘ Aber Stand jetzt ist, es ist alles gut. Sie sagen: ,Du brauchst dich nicht schlecht fühlen!‘.

Ja, es ist eher mein Kampf, aber nicht ihrer.“

Laura Dieckmann

Als waschechte Hamburgerin lebe ich mit meiner Familie in der schönsten Stadt der Welt – Umzug ausgeschlossen! Bevor das Schicksal mich zu Echte Mamas gebracht hat, habe ich in verschiedenen Zeitschriften-Verlagen gearbeitet. Seit 2015 bin ich Mama einer wundervollen Tochter.

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