So sehr wir uns auch davon distanzieren, irgendwie können wir uns als Mütter doch nie ganz davon frei machen, unser Kind mit anderen zu vergleichen. Leider führt das auch dazu, dass wir plötzlich nur die Dinge sehen, die unser Kind noch nicht kann, statt all der Dinge, die es schon kann.
Der amerikanischen Schriftstellerin Jenn Kish ging es genau so. Und das schlimmste daran: Ihr 10-jähriger Sohn hatte diese kritische Sichtweise auf seine Person sogar schon übernommen.
Doch eines Tages, während sie zuhause mit ihrem Sohn Mathematik übte, hatte sie ein echtes Schlüsselerlebnis. Weil sie davon so ergriffen war, teilte sie es auf Facebook mit der Welt, in der Hoffnung, dass auch andere Eltern ihre Kinder mit anderen Augen sehen:
Übersetzt schreibt Jenn Kish im Post:
„Ich habe mit meinem Zehnjährigen heute Mathe geübt. Er verbrachte fast eine Stunde mit einem kleinen Test, den ich ihm gegeben hatte, und verbrauchte vier Blätter Skizzenpapier. Er arbeitete an jeder Aufgabe mit höchster Konzentration. Und dann, mit einem tiefen Seufzer, gab er sie mir, damit ich sie benote.
Ich arbeitete mich schnell durch den Test und berechnete seine Punktzahl.
„Es ist eine 89“ sagte ich, „das ist eine 2+“.
Sofort füllten sich seine Augen mit Tränen. Er hatte sein Bestes gegeben, seine größte Mühe reingesteckt, und es hatte trotzdem nicht gereicht.
Ich sah meinen Jungen an und danach seinen Test.
Und ich zerriss ihn in zwei Hälften.
Mein Junge ist großartig in der Küche. Er kann ohne Schwierigkeiten eine Mahlzeit für die ganze Familie zubereiten.
Mein Junge ist großartig darin, Dinge zusammen zu bauen. Er kann bereits Werkzeuge benutzen wie ein begabter Handwerker.
Mein Sohn ist Gründer des Mutter-Sohn-Debattier-Teams (hab ich gerade erfunden). Er kann mich überzeugen Dinge zu tun, die ich nie vorhatte, zu tun.
Mein Junge ist witzig. Er ist immer der erste, der am Abendessenstisch Witze macht.
Mein Junge ist feinfühlig. Er ist lieb und sanft, wenn es gerade angebracht ist.
Mein Junge ist ehrgeizig. Er arbeitet solange an einer Sache, bis er denkt, dass sie nicht besser werden kann.
Mein Junge wird NICHT durch einen Mathetest definiert.
Als ich das Papier zerriss, sah ich meinem Sohn in die Augen und sagte ihm, dass ich ihn beobachtet hatte. Dass ich sah, wie er sein Bestes gegeben hatte, wie er jedes Problem abgewägt und überprüft hat, bis er dachte, es wäre vollständig ausgearbeitet. Ich sah ihn radieren und Aufgaben überarbeiten, bei denen er unsicher war. Ich sah ihn mit vollem Einsatz jedes bisschen Energie seines kleinen Körpers in diesen Mathetest stecken.
Und ich sagte ihm, dass ich nie stolzer auf ihn war.
Kinder sind so viel mehr als Testergebnisse. Sie sind so viel mehr als ihre Lesestufe. Sie sind so viel mehr als die Schublade, in die wir sie versuchen, hineinzuformen.
Schule ist wichtig, Bildung ist wichtig, aber sie ist nicht das Wichtigste.“
Stattdessen erinnert uns Jenn Kish daran, wie viel wichtiger doch die emotionalen und sozialen Talente unserer Kinder sind. Wie viel mehr es doch darauf ankommt, wie sie mit anderen umgehen, welche Persönlichkeit sie entwickeln und wie treu sie sich selbst bleiben. Deswegen fordert sie:
„Unsere Kinder müssen die Möglichkeit haben, uns zu zeigen, worin sie glänzen“.
Und genau das ist es: Lassen wir uns von unseren Kindern zeigen, was sie selbst können, wofür sie brennen, was ihre Interessen, Leidenschaften und Talente sind.
Wenn wir das, was sie können, in den Fokus stellen, statt zu vergleichen, was sie im Gegensatz zu anderen Kindern noch nicht können, machen wir unserem Kind zwei große Geschenke:
Zum einen lernt es, dass jedes Kind, jeder Mensch seine eigenen Stärken hat und nicht alles können muss. So lernt es selbst, sich gar nicht erst mit anderen zu vergleichen und negativ zu bewerten, wenn es in etwas nicht so gut ist wie ein anderes Kind.
Zum anderen fühlt sich unser Kind gesehen, akzeptiert und auf seinem ganz persönlichen Weg unterstützt. Etwas Besseres als das kann unser Kind für ein starkes Selbstwertgefühl gar nicht erfahren.