Wenn sie noch so klein sind, kann man es sich kaum vorstellen, doch irgendwann kommt der Punkt, dass Kinder sich auch mal etwas zurückziehen möchten und sich mit sich selbst beschäftigen können. Nur wann ist dieser Rückzug „zu viel” – gibt es ein zu viel? Nachdem uns eine Frage einer Mama aus der Community dazu erreicht hat, haben wir mit einer Expertin darüber gesprochen.
Eine Mutter schrieb uns über Facebook: „Meine Tochter ist am liebsten alleine im Haus und liest. Versteht mich nicht falsch, ich finde es toll, dass sie ein Hobby hat, aber dadurch hat sie kaum soziale Kontakte. Ich weiß nicht, was ich machen soll.”
„Hauptsache sie ist glücklich!”
In den Kommentaren hatten die meisten anderen Mamas Verständnis für das Kind und gaben der Mama vor allem einen Rat: Die Kleine nicht zu drängen, sich zu verändern – denn jedes Kind ist anders und hat andere Bedürfnisse.
„Lass sie. Nicht alle Kinder wollen vielen Kontakt zu anderen Kindern. Meine Tochter liebt es unter anderen Kindern zu sein, mein Sohn mag seine Ruhe ( wie ich).”
„Die Frage ist erstmal, ob dein Kind glücklich damit ist. Wenn ja, dann ist alles gut, dann muss sich gar nichts ändern außer deine Einstellung.”
„Unsere hat auch viel gelesen, war gerne für sich. Jetzt ist sie erwachsen und ein absolut toller Mensch. Einfach sein lassen.”
„Sie geht doch sicher in die Schule… Da hat sie doch sehr viele soziale Kontakte. Einfach akzeptieren, wie sie ist! Sie hat mindestens 5× die Woche jede Menge sozialen Kontakt. Das ist für manchen auch schon sehr viel. Im Übrigen finde es toll, dass sie liest.”
Rückzug bei Kindern: Das sagt die Expertin
Wir fanden die Frage spannend, ob Eltern eingreifen oder zumindest Anreize setzen sollten, wenn ein Kind sich viel zurückzieht und haben deswegen Sozialpädagogin und Mama-Coach Sonja Sidoroff dazu befragt.
Wie viel Rückzug ist normal?
„Allgemein lässt sich diese Frage nicht beantworten. Die Frage ist: War das Kind schon immer so oder hat sich das Verhalten plötzlich verändert? Wenn sich das Kind plötzlich zurückzieht, kann es ein Hinweis darauf sein, dass im Außen etwas nicht stimmt, wie Mobbing etc. Wenn das Kind sich jedoch schon immer sehr für Bücher interessiert hat und gerne für sich war, ist es wohl eher Typsache.
Kinder sind unterschiedlich, und während einige sehr sozial sind, sind andere introvertierter und genießen mehr Zeit allein. Solange das Kind glücklich und ausgeglichen wirkt, ist ein gewisses Maß an Rückzug normal. In verschiedenen Altersstufen kann das Bedürfnis nach Rückzug variieren. Jüngere Kinder haben oft mehr soziale Interaktionen durch Schule oder Kindergarten, während ältere Kinder und Jugendliche mehr Eigenständigkeit und Zeit für sich selbst suchen könnten.”
Ist es normal, dass Kinder sich für Hobbys zurückziehen?
„Ja, es ist durchaus normal, dass Kinder sich intensiv mit ihren Interessen beschäftigen und dabei Zeit allein verbringen. Lesen und Spielen sind wertvolle Aktivitäten, die Kreativität, Wissen und kognitive Fähigkeiten fördern. Vor allem Lesen fördert sehr die Kreativität. Die Kinder ziehen sich in ihre eigene Fantasiewelt zurück und erleben dort die tollsten Abenteuer. Aber auch hier ist wieder die Frage: Könnte es im Außen einen Grund dafür geben, weshalb das Kind lieber aus der Realität ‚flüchtet‘? Oder ist es einfach ein tolles, abenteuerreiches Hobby, dem das Kind gerne nachgeht?
Wir selbst sind ja auch immer Vorbild für unsere Kinder. Kinder lernen durch Nachahmen, weniger durch Worte. Wie ist es also um die eigenen sozialen Fähigkeiten bestellt? Wie wird zu Hause über andere Menschen und Umstände im Außen gesprochen? Welches Gefühl wird dem Kind in Bezug auf andere Menschen und die Welt ‚da draußen‘ vermittelt? Wenn das Kind zurückgezogen ist, heißt das nicht immer, dass der Grund dafür bei den Eltern liegt. Wenn man jedoch sein Kind dabei unterstützen möchte, etwas ‚geselliger‘ zu werden, lohnt es sich, alle Aspekte, die bisher hinderlich sein könnten, zu beleuchten.”
Sollte man das Kind für „sozialere” Hobbys begeistern?
„Gut ist, darauf zu achten, dass das Kind eine gesunde Balance zwischen Zeit allein und sozialen Aktivitäten hat. Es sollte die Möglichkeit haben, sowohl seinen Hobbys nachzugehen als auch soziale Interaktionen zu erleben. Eltern sollten die Interessen ihres Kindes unterstützen und gleichzeitig soziale Kontakte fördern, ohne Druck auszuüben. Vielleicht könnte man eine gemeinsame Aktivität mit einer anderen Familie vereinbaren, einen Zoo- oder Schwimmbadbesuch zum Beispiel?
Wenn das Kind eher kreativ ist, könnte man schauen, welche Kreativ-Workshops es in der Nähe gibt. Dort könnte sich das Kind künstlerisch austoben und dabei auf Gleichgesinnte treffen. Man könnte sich auch mal gemeinsam mit dem Kind verschiedene Vereine anschauen, in die es mal unverbindlich reinschnuppern kann. Die meisten bieten ja 1-2 kostenfreie Schnupperstunden an. Eventuell findet es ja Gefallen an einem? Dies sollte jedoch nie unter Druck und Zwang geschehen. Es ist wichtig, dass das Kind positive Erfahrungen in Gruppen macht.
In vielen Städten gibt es auch Lesetreffs für Kinder. Dort können sich Lesebegeisterte treffen und sich über die neuesten Bücher austauschen. Eventuell wäre das ein guter Weg, um Lesen und soziale Kontakte miteinander zu kombinieren. Ein Gespräch mit der Schule kann auch weiterhelfen. Wie verhält sich das Kind im Klassenverband? Hat es Freunde? Ist es aufgeschlossen? Scheint es sich wohlzufühlen? Hier kann man auch schon erste Hinweise darauf erhalten, aus welchen Beweggründen sich das Kind zurückzieht.”
Müssen sich Eltern Sorgen machen, wenn das Kind sich viel zurückzieht?
„Das Wichtigste ist, das Kind zu beobachten. Tut der Rückzug meinem Kind gut und ist er vielleicht der Weg für mein Kind, um den Alltag zu verarbeiten und zu entspannen? Wenn dem so ist, würde ich mir keine großen Sorgen machen. Es gibt einfach Menschen, die gerne für sich sind und damit auch sehr happy sind.
Ansonsten würde ich aber auch versuchen, Gespräche mit meinem Kind zu führen über seine Interessen und Gefühle, um ein besseres Verständnis für das Verhalten zu bekommen. Gleichzeitig würde ich Unterstützung anbieten. Es ist wichtig, dass das Kind sich sicher fühlt und weiß, dass immer jemand da ist, mit dem es reden kann.
Wenn sich das Rückzugsverhalten negativ auf das Wohlbefinden des Kindes auswirkt, z.B. durch Anzeichen von Depression, Angst oder sozialer Isolation, kann es hilfreich sein, eine*n Kinderpsycholog*in oder Berater*in aufzusuchen.
Vielen Dank an unsere Expertin Sonja Sidoroff für ihre Einschätzung!
Sonja Sidoroff ist Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin (M.A.) und zertifizierte Inneres Kind Mentorin. Sie hat viele Jahre in einer Familienberatungsstelle gearbeitet und ist seit 2022 selbständig als Mama Coach. Außerdem ist die gebürtige Saarländerin selbst zweifache Mädchen-Mama. Ihr findet Sonja über ihre Webseite (sonja-sidoroff.de) oder ihr Instagram-Profil als der_mama_coach.