Die amerikanische Bloggerin und Autorin Rachel Garlinghouse war gerade einmal 13 Jahre alt, als sie im Umfeld ihrer Kirche zu einer Jugendgruppe mit baptistischen Wurzeln stieß: „True love waits“. Sprich: Kein Sex vor der Ehe. Religiös motivierte Bewegungen, die Enthaltsamkeit propagieren, sind in den USA anders als hier weit verbreitet. Für eine junge Frau auf der Suche nach sich selbst kann dieser Einfluss verheerend sein, denn mit dem „Warten“ allein ist es nicht getan.
Das „Geschenk da unten“ sollte unbedingt bewacht werden
Rachel wurde beigebracht, ihr „Geschenk da unten“ als Gottes Tempel zu betrachten. Sie sollte ihn unter anderem bewahren, indem sie nicht viel Haut (keine Shorts oder ausgeschnittene Shirts) zeigte. „Dabei spielte ich damals immer noch manchmal Barbie mit meiner jüngeren Schwester und war sogar schon zu ängstlich, ein Tampon zu benutzen.“
Sie bekam zu hören, dass LGBTQ etwas Abscheuliches ist, Abtreibung eine Sünde, Masturbation ein Tabu. Ihr wurde ein silberfarbener Ring an den Finger gesteckt, auf dem „True Love Waits“ eingraviert war. Es sollte nur einen passenden Zeitpunkt geben, diesen wieder abzulegen: sobald ihr ein Ehering angesteckt würde. „Diese Bewegung junger Christen war in Scham, Beschämung und Angst getaucht. Und da ich unter einer Angststörung litt, war ich ein ein leichtes Ziel für die Indoktrinierung.“
Geködert mit Lob und Versprechungen
Für uns als Erwachsene ist es vielleicht schwer vorstellbar, dass jemand sich freiwillig solchen Einschränkungen unterwirft. In den USA ist der Einfluss von Freikirchen allerdings sehr viel größer. Und die stehen oftmals anders, als der Name vermuten lässt, keineswegs für Freiheit, sondern für ultrafromme, überkommene Moralvorstellungen. Und: Die Zielgruppe ist einfach wahnsinnig jung und manipulierbar. Für Rachel geschah dies alles zu einer Zeit, als sie noch gar nicht verstand, warum Freunde kicherten, wenn von der „69“ die Rede war, noch jemals ein Kondom gesehen hatte – und ohnehin keinerlei Gefahr bestand, dass sie sich demnächst quer durch die Betten schlafen würde.
Die Vorstellungen von Liebe (und Sexualität) sind zu dieser Zeit ohnehin noch nebulös und von hübschen Märchen geprägt. Auch sind Teenies meistens noch auf der Suche nach sich und konnten noch kein echtes Selbstbewusstsein entwickeln. Genau dort dockt diese Bewegung an, indem sie unsichere Jugendliche für ihr Keuschheitsgelübde richtig abfeiert und damit ihr Ego stärkt. Klar, dass auf sie außerdem eine glorreiche, megaromantische, auch sexuell absolut erfüllende Hochzeitsnacht warten sollte. Das erste Mal war doch bei uns allen wie im Märchen, oder auch… nicht.
Wie unterschiedlich „Vergehen“ gegen das Versprechen aufgenommen wurden, zeigte sich, als ein 19-jähriges Mädchen schwanger wurde. Wer war wohl die Sünderin? Richtig, nicht der beteiligte Mann! „Die Jungs kamen mit solchen Sachen immer durch und mussten sich nicht in großer Runde einen beschämenden Vortrag anhören.“
Geködert mit Lob und Versprechungen
Wie dieser Instagram-Beitrag zeigt, ist Rachel heute seit vielen Jahren glücklich verheiratet und hat vier Kinder. Sie ist eine gestandene Kämpferin, die gelernt hat, mit Diabetes und Angst zu leben und eine Brustkrebserkrankung überstand. Gläubig ist sie auch heute noch, aber Anhängerin eines modernen, inklusiven, freiheitsliebenden Christentums. Und doch spürt sie noch heute, dass die Zeit mit „True Love Waits“ tiefe Spuren hinterlassen hat. Wenn es daran geht, mit ihren Kindern über Sex zu reden, ist sie häufig verunsichert. „Aber wenigstens weiß ich, was ich ihnen nicht beibringen werde: Ich werde an sie ganz sicher keine Vorurteile und Fehlinformationen von einem repressiven Sex-Bildungs-Programm weitergeben. Ich will sie unterstützen, für sich selbst verantwortungsbewusste Lebensentscheidungen zu treffen.“
Gibt es „True love waits“ auch in Deutschland?
„True love waits“ ist die einzige der amerikanischen Keuschheitsbewegungen, die es auch in den deutschsprachigen Raum geschafft hat. Hier ist sie aber seit ein paar Jahren nicht mehr aktiv. Weltweit wurden dennoch mehrere Millionen Verpflichtungserklärungen von jungen Menschen abgegeben: „In dem Glauben, dass wahre Liebe wartet, verpflichte ich mich gegenüber Gott, mir selbst, meiner Familie, meinen Freunden, meinem zukünftigen Ehepartner und meinen zukünftigen Kindern, von diesem Tag an sexuell enthaltsam zu bleiben bis zu dem Tag, an dem ich eine biblische Ehe eingehe.“
In den USA beeinflusst die Bewegung auch heute noch Jugendliche, selbst wenn diese gar nichts mit ihr am Hut haben. Sie steuert etwa mancherorts Unterrichtsmaterialen für den Sexualkunde-Unterricht bei. Ein offener Umgang mit Geschlechteridentitäten, sexuelle Selbstbestimmung der Frau und das (in den USA in vielen Bundesstaaten ohnehin eingeschränkte) Recht auf Abtreibung stehen dann selbstverständlich NICHT auf dem Lehrplan. Verhütungsmittel zum Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten? Natürlich Enthaltsamkeit! Dumm nur, dass viele der Jugendlichen, die ein Gelübde abgelegt haben, dann doch vor der Ehe Sex haben (nämlich 88 (!) Prozent, wie eine Umfrage zeigte) – und dann seltener Kondome verwenden als andere Jugendliche.