Ich war als Kind eigentlich ganz gerne mal (ein bisschen) krank. Es gab Salzstangen, Cola, und manchmal durfte ich sogar einen Tag zu Hause bleiben. Ansonsten wurde nicht viel Wirbel gemacht. Ganz schnell hieß es: „Steh mal auf, dir geht es doch schon besser.“ Auch wenn der Bauch noch zwackte, und ich gerne noch etwas in Mitgefühl gebadet hätte. Heute denke ich: „War schon okay so.“ Sehr viel schwerer haben es Kinder, die von Arzt zu Arzt geschleift werden, obwohl sie gesund sind – weil ihre Eltern die Aufmerksamkeit brauchen.
Gerade wurde in Paderborn eine 34-jährige Frau zu einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt, weil sie vortäuschte, ihre beiden kleinen Töchter wären schwer krank. Dabei war sie so „erfolgreich“, dass ein Kleinkind einen künstlichen Darmausgang erhielt, das andere eine Magensonde.
In solchen Fällen spricht man vom Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (oder Munchhausen-by-Proxy-Syndrom). Diese Form der Kindesmisshandlung wirkt besonders perfide, weil sie sich hinter scheinbar liebevoller Fürsorge verbirgt. Überwiegend sind es Frauen (ca. 90 Prozent), die auf diese Art übergriffig werden. Sie schleppen ihre Kinder von einem Arzt zum anderen, wollen als besonders fürsorglich und medizinisch kompetent gesehen werden.
„Und bist du nicht willig,…“
„…dann brauche ich Gewalt.“ Manchmal spielen die Kinder mit, weil ihnen so erfolgreich eingeredet wurde, sie seien krank, dass sie es selbst glauben. Manchmal greifen betroffene Elternteile aber auch zu harten Mitteln, um echte Symptome hervorzurufen. In dem Paderborner Fall ging das Gericht zum Beispiel davon aus, dass die Mutter absichtlich bei der jüngeren Schwester eine Unterernährung herbeiführte, damit eine Magensonde unbedingt notwendig schien. Kein Einzelfall. Eine US-Mutter erfand Krebsleiden ihres Sohnes, was zu 13 Operationen führte. In Lübeck zwang eine Mutter ihre Kinder in Rollstühle, tingelte mit ihnen von TV-Show zu TV-Show und erschlich so neben der Aufmerksamkeit diverse Sozialleistungen.
Eine Tochter hat sich gerächt – und erstach ihre Mutter
Der Leidensdruck der Kinder ist groß. Bei Gypsy Blancharde so groß, dass sie sich mit 24 Jahren an ihrer Mutter rächte und diese erstach. „Die Schlampe ist tot“, sagte sie hinterher. Das klingt eiskalt, allerdings war sie seit dem Säuglingsalter von Mama Clauddinnea misshandelt worden. Erst nach deren Tod stellte sich heraus, was Gipsy durchgemacht hatte. Die Außenwelt hielt Clauddinnea nämlich über all die Jahre für eine aufopferungsvolle, leidgeprüfte Mutter. Es gab Spendenaktionen für sie, bei der sogar ein neues Haus raussprang. Der aufsehenerregende Fall wurde von HBO verfilmt.
Hinter der Fassade litt ihre Tochter, ohne dass es jemand bemerkte. Vermeintliche epileptische Anfälle, eine angebliche Muskeldystrophie, dann Leukämie – dies alles war von der Mutter fingiert. Die Folgen für Gipsy: Rollstuhl, Speicheldrüsenentfernung, Operationen an Augenmuskeln und Ohren sowie – ähnlich wie in dem Paderborner Fall – eine Magensonde.
Wie erkennt man das Syndrom?
Statistisch betrachtet sind unter 100 000 Kindern im ersten Lebensjahr im Schnitt 2,5 betroffen. Das sind nicht viele, allerdings wird von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen. Für Ärzte ist es das reinste Detektivspiel, solchen Fällen auf die Spur zu kommen. Die Symptome können ja durchaus echt sein. Mit kaliumhaltigen Lösungen wird der Nährstoffhaushalt manipuliert, Giftstoffe führen Atemaussetzer herbei, Erbrochenem oder dem Stuhl wird Blut beigemischt, Spritzen sorgen für Hautinfektionen, Medikamente für Durchfälle, etc.
Warnsignale: Die Symptome treten fast nur in Gegenwart eines Elternteils auf, sie sind einfach nicht zu erklären, mehrere Kinder einer Familie leiden unter unklaren Erkrankungen, die Mutter-Kind-Beziehung wirkt etwas zu symbiotisch, und die Mutter zeigt sich auffallend geduldig.
Problem: Solche Warnsignale können auch falsch gedeutet werden – zu Ungunsten unschuldiger, tatsächlich leidgeprüfter Mütter. So wurde in Großbritannien eine Mutter, Sally Clark, nach Aussage des Arztes wegen des Mordes an ihren beiden Kindern für schuldig befunden. Später stellte sich heraus, dass beide Kinder höchstwahrscheinlich am plötzlichen Kindstod gestorben waren – ein schrecklicher Zufall. Wie schlimm es für die Mutter gewesen sein mag, danach auch noch an den Pranger gestellt zu werden, kann man sich kaum vorstellen. Sally Clark starb wenige Jahre später an einer Alkoholvergiftung.