„Neunhundert und vierzig Murmeln. Wenn du an dem Tag, an dem dein Kind geboren wird, ein Glas mit 940 Kugeln füllst, hältst du damit die Anzahl der Wochen zwischen der Geburt des Kindes und seinem 18. Geburtstag in Ihren Händen. Es wird ein kräftiges Gefäß sein, vielleicht zu schwer, um es mit nur einer Hand zu halten. In seinem Inneren glänzt es und es ist bunt, die Murmeln klirren aneinander, wenn Sie das Glas schütteln. Täuschend klein und verhältnismäßig unscheinbar repräsentiert jede Murmel das kommende Potenzial, die Zeit, die Meilensteine, die Geburtstage.“
Mit diesen Worten stellt Bonnie Blaylock ihre Idee vor, mit der sich die Mama die Kindheit ihrer zwei Jungs verdeutlicht hat. Jede Woche hat sie eine Murmel aus dem Glas genommen und ein Resümee gezogen: Was hatte diese Murmel mit ihrer Familie vor? War die Woche wie im Fluge vergangen, ausgefüllt von all den kleinen, typischen Alltagssituationen?
„Am fünften Geburtstag sind 260 der Murmeln weg. Nach Wochen, von denen viele in einer Unschärfe aus Wickeln, Füttern, Gute-Nacht-Geschichten und „Der kleinen Raupe Nimmersatt“ verschwinden. Einige Murmeln verschwanden in einem Dunst schlafloser Nächte aus dem Glas.
Am zehnten Geburtstag fehlt dann mehr als die Hälfte aus dem einst vollen Glas. Halte es mit einer Hand ans Licht und erinnere dich an den Notarztbesuch für den gebrochenen Arm, die im Flur verstreuten Sportgeräte und dieses Lächeln mit den viel zu großen Zähnen, als dein Kind stolz erzählt, dass es gerade auf den hohen Baum geklettert ist, um eine Frisbee aus den Zweigen zu befreien.“
Trotz all dieser Wehmut, die die Vergänglichkeit der „kleinen“ Tage unserer Kinder mit sich bringt, hat Bonnie nicht vor, jungen Müttern damit zu sagen: „Genieße jeden Moment! Eines Tages wirst du das alles sehr vermissen.“ Sie schreibt: „Ich glaube an eine bewusste Erziehung, aber zu versuchen, sie auch jede Sekunde zu leben, wird dich verrückt machen – und die besten Momente verhindern. Einige der besten Lektionen entstehen durch Spontaneität und stolpern plötzlich in unseren Weg. Und um ganz ehrlich zu sein: Es gibt auch viele vergangene Momente, die ich nicht vermisse.“
Bonnie gibt zu, dass sie natürlich nicht jede Murmel mit Zeit und voller Nachdenken aus dem Glas genommen hat. Denn, wie es mit Kindern nun mal so ist, das Leben lässt diese Momente des Innehaltens oftmals einfach nicht zu.
„Der Lärm von Freunden, hektische Schulprojekte und die ständige Planung der Familientermine waren häufig viel dringender als die Anzahl kleiner Kugeln im Glas auf meinem Schreibtisch. Es ist eine Herausforderung, das Leben mit einem Teenager zu organisieren – und Geschwister verstärken das Chaos noch. Es gibt einen lauten Chor von Stimmen und Gelächter, wenn sie den Kühlschrank plündern, Melodien auf dem Klavier anstimmen und die Schlüssel auf die Theke werfen, wenn sie kommen und gehen.“
Während der Pubertät ihrer Kinder gab es Momente, in denen Bonnie die Murmeln liebend gerne etwas schneller aussortiert hätte, um den ewigen Konfrontationen zu entgehen:
„Um den 16. Geburtstag herum rattern dann nur 108 Murmeln im des Glases, man nähert sich schon seinem Boden. Es gibt Momente, und manchmal sogar ganze Reihen von ihnen, in denen ich mit zusammengebissenen Zähnen still am liebsten ein paar der Murmeln auf einmal wegnehmen wollte. Zu groß und nervenzehrend ist manchmal die Anstrengung von Teenagern, mit der Unabhängigkeit zu ringen. Wenn sie über die Murmeln hätten bestimmen können, hätten sie das Glas vielleicht selbst gekippt und sich die Zeit genommen, damit sie schneller vorbei geht – hungrig nach dem kommenden Leben voller Freiheit, das sie sich vorstellten.“
Gleichzeitig setzte jetzt die Wehmut bei Bonnie ein – wo waren ihre Babys nur geblieben, die gestern noch auf ihrem Schoß kuscheln wollten?
„Als meine Kinder so 17, 18 wurden, hat mich ein Gefühl der Dringlichkeit ergriffen. Als ihre Zeitpläne zu ihren eigenen wurden und wir sie immer weniger sahen, sehnte ich mich nach ihren Füßen auf dem Couchtisch, zerzausten Bettköpfen beim Frühstück oder auch Mittagessen. Meine Augen erinnerten sich an ihre kindlichen Züge von vor langer Zeit, als wir in der Dämmerung kuschelten und „Baby Mine“ sangen, das Lied von Dumbo, das ihm der Mama-Elefant singt.
Ein Remake erscheint in ein paar Monaten und wir sahen kürzlich eine Vorschau, als ich mit meinem jüngeren Sohn im Kino war – „Baby Mine“ inklusive.
,Warum weinst du?`, fragt mich mein Sohn, den Mund voller Popcorn. Verletzt schaute ich ihn an: ,Erinnerst du dich nicht an dieses Lied?‘ Er schüttelte den Kopf und ich blickte seinen Vater an. Einige Erinnerungen werden nur mir gehören, sie sind zu früh entstanden, lange, bevor er anfing, seine eigenen zu speichern. ,Mama. Was?`
In den letzten Wochen ihrer letzten Sommer, als sie meine Wehmut spürten, fingen sie an, mich anzustarren und ich sah weg. Unfähig, es ihnen zu erklären und ihre Ungeduld zu vermeiden. Wie sollten sie auch den Stolz verstehen, den ich fühlte, mein Erstaunen über ihre Zuversicht, ihren Humor und die Tatsache, dass – egal wie viele Bartstoppeln auf ihren Gesichtern wuchsen oder wie groß sie in einer taillierten Jacke aussahen– ich sie parallel immer noch als 3-, 8- oder 16jährige sah?
Ihr Inneres war ein merkwürdiger emotionaler Kessel geworden, in ihm ein ein Hexengebräu aus der Freude und Aufregung über ihre Zukunft und aus dem Leid über ihre endgültige Abreise aus der Kindheit.“
Vor kurzem zog dann ihr jüngster Sohn aus. Ein großer Schritt für ihn – und nicht zu fassen für Bonnie.
„Wie sind wir hier plötzlich angekommen? Die Zeit meiner Fürsorge schien doch immer endlos. Doch dann kam die Abschlussfeier, ein letzter gemeinsamer Familienurlaub, und letzte Woche dann ein letztes Klopfen auf den Kopf des Hundes, bevor mein Kind in das Auto stieg, das ihm zu einer neuen Adresse fuhr, in ein neues Bett.
Ich nehme die letzte Murmel aus dem Glas und halte sie ganz fest. So oft, als sie Kleinkinder und Teenager waren, dachte ich, ich würde in dem Chaos durchdrehen und meine Murmeln und damit meine kleinen Jungs verlieren.
Letzte Woche stellt sich dann heraus, dass genau das jetzt geschehen ist. Tschüss, Kumpel. Tue Gutes. Nein, ich weine nicht. Mein Herz quillt mir nur gerade ein bisschen in die Augen.“