Wenn jemand besonders gut weiß, wie groß und stark Gefühle sein können, dann sind es vermutlich die Eltern von Kleinkindern. Denn wie so vieles andere auch, müssen Kinder den Umgang mit den eigenen Gefühlen erst lernen. Das ist nicht nur eine wichtige Entwicklung, sondern auch entscheidend für die psychische Gesundheit im späteren Leben. Ein trauriger Fakt ist nämlich auch, dass heute fast jeder 3. Mensch in Deutschland im Laufe seines Lebens an einer psychischen Krankheit leidet.
Wir haben Kinder- und Jugendpsychotherapeutin sowie Dreifach-Mama Julia Tiedge gefragt, wieso Emotionen eine so große Rolle spielen.
Und wie können wir Kindern dabei helfen, zu lernen, gut mit allen Arten von Gefühlen umzugehen?
Echte Mamas: Liebe Julia, warum ist es für die psychische Gesundheit so wichtig, die eigenen Gefühle zu verstehen?
„Gefühle helfen uns, unsere Bedürfnisse wahrzunehmen. Angst z.B. signalisiert mögliche Gefahr, Wut kann ein Hinweis sein, dass wir uns in unserer Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie eingeschränkt fühlen, usw. Wenn möglichst viele unserer Bedürfnisse erfüllt sind, erleben wir ,positive` Gefühle, ,negative Gefühle` warnen uns, dass wir nicht gut versorgt oder in Gefahr sind. Somit sind sie überlebensnotwendig.“
Echte Mamas: Was sind typische Situationen, in denen Kinder mit ihren eigenen Gefühlen überfordert sind? Und wie können wir sie in solchen Momenten am besten unterstützen?
„Kinder, vor allem junge Kinder, sind mit ihren Gefühlen häufig überfordert, denn sie besitzen noch nicht die Lebenserfahrung, Hirnreife und Kompetenzen, mit Gefühlen angemessen umzugehen. Ihre Gefühle sind meist stärker, größer, bedrohlicher und absoluter als wir Erwachsenen unsere Gefühlswelten wahrnehmen. Zudem können Kinder anfangs ihre Bedürfnisse noch nicht eindeutig einem Gefühl zuordnen, in Worte fassen oder selbst erfüllen.
Sie brauchen die Unterstützung eines feinfühligen Gegenübers, das ihnen hilft, ihre Gefühle wahrzunehmen, zu deuten und sie erfüllt zu bekommen.
Ein Kind, das zum Beispiel seine Zähne nicht putzen möchte und wütend wird, ist vielleicht müde und fühlt sich außerdem gegängelt, weil wir vorgeben, was passieren muss. Es versteht noch nicht, dass das Zähneputzen wichtig für seine Gesundheit ist, dafür reichen Hirnreife oder Lebenserfahrung nicht aus. Wir helfen ihm, indem wir kurz und kindgerecht erklären, warum wir die Zähne jetzt putzen werden und dem Kind einen Teil der Autonomie zurückgeben:
DASS wir Zähne putzen, wird nicht diskutiert, aber WO/WIE können wir das Kind vielleicht bestimmen lassen (in der Höhle, beim Vorlesen, ….) Wenn wir lernen, die Bedürfnisse hinter dem Verhalten unseres Kindes zu lesen und von Wünschen unterscheiden zu lernen, können wir dem Kind viel über sich selbst und andere beibringen. Und unser Alltag wird zusätzlich ruhiger.“
Echte Mamas: Wie können wir unsere Kinder dabei unterstützen, die eigenen Gefühle zu erkennen und zuzulassen?
„Der erste Schritt ist immer, dass wir uns selbst unseren Gefühlen und Bedürfnissen bewusst werden und mit unserer Familie über diese Themen sprechen. Wenn es im Alltag eine Offenheit für eigene Gefühle und die der anderen gibt, kommen wir in den Austausch darüber. Es ist ein stetiges Aushandeln zwischen allen Familienmitgliedern nötig, damit es allen (meistens) gut geht.
Eine schöne Gelegenheit können Bücher und andere Medien bieten, die Gefühle in den Mittelpunkt stellen, so z.B. das Gefühle-Special der Sendung mit dem Elefanten (s. ganz unten). Hier werden häufige Kindergefühle einfühlsam dargestellt und es wird dazu angeregt, sich darüber mit den Kindern zu unterhalten. Später kann im Alltag daran angeknüpft werden.“
Echte Mamas: Wie können wir als Eltern als gute Vorbilder dienen?
„Indem wir dafür sorgen, dass wir selbst eigene Gefühle zulassen und darüber in den Austausch kommen, mit unseren Kindern, aber z.B. auch in der Partnerschaft. Wir bleiben feinfühlig in unserer Wahrnehmung, wenn es uns selbst gut geht. Deshalb ist Selbstfürsorge für Eltern ein wichtiges Thema und kommt oft zu kurz: Bedürfnisorientierung heißt auch, sich selbst nicht zu vergessen.“
Echte Mamas: Was sollten wir unbedingt vermeiden?
„Gewalt sollten wir vermeiden – wenn ich das so sage, antworten die allermeisten Eltern innerlich mit einem zustimmenden Nicken. Aber: Wir übersehen oft, wie komplex psychische Gewalt ist, z.B. das Erziehen mit Scham- und Schuldgefühlen, anstatt ein liebevolles, klares Nein von unserer Seite. Natürlich autoritär zu sein heißt, dass wir unsere Kinder innerhalb eines sicheren Rahmens, den wir verantwortungsvoll setzen, Erfahrungen sammeln lassen.
Wir sind Orientierung, bieten Trost, Halt, Inspiration oder Mediation, z.B. bei Streit. Wir erfreuen uns an unseren Kindern, zeigen ihnen achtsam das Schöne in der Welt und auch die Gefahren. Wir respektieren sie als Mensch und sehen ihre Bedürfnisse als gleichwertig zu unseren an. Klar ist aber auch: jede:r von uns trägt einen Rucksack mit eigenen Erfahrungen und hat einen eigenen Alltag.
Perfektionismus sollte man also auch vermeiden!
Anstatt dessen ist es gut für Kinder, wenn ihre Eltern sich weiterentwickeln und sich selbst besser kennen und verstehen lernen. Der eine Elternteil kann z.B. gut trösten, der andere eignet sich weniger dafür. Man kann es aber lernen und dabei für sich selbst gute neue Erkenntnisse gewinnen, wenn man das möchte. In meiner Praxis mit angeschlossener FamilienWerkstatt arbeiten wir auf diese Weise mit vielen Familien zusammen.“
Echte Mamas: Warum fällt es Eltern oft so schwer negative Emotionen ihrer Kinder auszuhalten?
„In der Regel sind es eigene unterdrückte Gefühle, die uns bei unseren Kindern ,triggern´. Können wir ein Verhalten oder Gefühl unseres Kindes nicht gut aushalten, ein Bedürfnis nicht gut erfüllen, dann kann der Grund dafür in unserer Kindheit liegen, in unseren Erfahrungen, die wir gemacht haben, als wir klein waren.
Es kann aber auch ein Passungsproblem sein (mein Gefühl und Bedürfnis vs. deins) oder ganz einfach stressbegründet sein. Wenn wir leer sind, können wir nicht gut für andere sorgen. Auch unser ,Kooperationsrucksack` ist z.B. abends oft leer. Daher muss man manchmal Nadelöhrmomente so gut es geht vermeiden und ansonsten auch mal Fünfe gerade sein lassen.“
Gefühle ohne Ende – Das große multimediale Gefühle-Special der Sendung mit dem Elefanten
Wut, Liebe, Traurig sein, Freude und Angst – In fünf Folgen widmet sich die Sendung für Kinder im Alter von 3-6 Jahren dem Thema Gefühle aus den verschiedensten Perspektiven. Zum lernen, mitmachen und ganz viel entdecken! Ab sofort könnt ihr die Inhalte in der ARD-Mediathek abrufen. Mit dabei sind viele bekannte Gesichter wie z.B. Anke Engelke, Annette Frier, Carolin Kebekus. Schaut unbedingt mal rein!
Noch mehr Tipps und konkrete Hilfestellungen für Eltern von unserer tollen Expertin Julia Tiedge, die bei der Erstellung des Specials mitgewirkt hat, findest du übrigens zusätzlich auch noch hier!
Viel Spaß bei eurem gemeinsamen Gefühle-Abenteuer!