„Mein Mann Paul und ich haben einmal den Begriff der Realisation days für uns erfunden.
‚Realisation days‘ definieren die Momente, an denen wir mit einem Schlag realisieren, dass das, was um uns herum ist, gerade wirklich wahr ist.
Momente, an denen wir vor Glück schreien könnten. Momente, in denen man gerne die Zeit anhalten würde.
Die manchmal so surreal sind, dass man sich sagen muss: Nein, genau das was du siehst, fühlst und erlebst, ist gerade wirklich real. Du hast diesen Moment mitgezaubert. Das sind wirklich deine Kinder. Das ist wirklich dein Leben. Das sind wirklich deine Freunde. Das ist wirklich dein Mann.
Manchmal, als mein inzwischen sechsjähriger Sohn Emil klein war und ich ihn vom Kindergarten abgeholt habe, habe ich ihn auf eine dieser winzig kleinen Bänke an der Garderobe gesetzt, um ihm diese winzig kleinen Schuhe zuzubinden, ihn in diese kleine Jacke zu hüllen, diese weichen noch blonden Locken zwischen den Fingern zu spüren.
„Heute war es schön, Mama,“ hat Emil gesagt. Und ich bin fast hinten übergekippt, weil mir manchmal so bewusst wurde, ICH bin seine Mama. Ich bin jemand, den man „Mama“ nennt. Ich bin der wichtigste Mensch in seinem Leben.
Momente meines Lebens? Meine beiden Geburten. Überwältigend, schmerzhaft, emotionsgeladen. Aber auch zum ersten Mal ein Gefühl, dass nur mich betraf. Ich war der Mittelpunkt dieses Gefühls. Ich konnte alles loslassen. Ich habe geschrien, geschimpft, gebettelt. Man war so völlig frei von Konventionen. Alles war erlaubt. Denn ich habe ein Leben geboren. Im Wasser. Etwas Grossartiges, Bezauberndes, Überwältigendes. Etwas, dass mein Leben verändern würde und mich. Ein Kind, dass mir die Augen öffnen würde. Das mich reflektierter sein lässt. Mich noch mehr träumen lässt. Mich überflutet mit Liebe. Mir Verantwortung überträgt, die mich bis in die Fingerspitzen erfüllt.
Sind Kinder der Sinn des Lebens? Vielleicht. Aber das bedeutet nicht, dass ein Leben ohne sie weniger bereichernd war. Die Momente eines jeden Lebens setzen sich zusammen aus kleinen Einzelstücken. Manchmal ganz banalen. Erinnern wir uns mehr an Erfolge oder mehr an das Glück?
Ich erinnere mich sehr gut an den Moment, als ich mein Examen abgeschlossen habe. An die letzte Prüfung. Diese Erleichterung. Dieses Gefühl nach einem langen Jahr voller Prüfungen und Tagen und Nächten in der Bibliothek: Jetzt bist du frei! Mach, was du willst! Schlafe aus! Gehe tanzen! Reise!
Nach zwei Tagen war das Gefühl weg. Der Moment meines Lebens? War das nicht. Die Momente meines Lebens sind immer mit Menschen verknüpft, die ich liebe. Sie sind manchmal sehr klein. Manchmal sind es Sätze. Oder die Gesichter meiner Eltern, als ich noch Studentin war, und immer mit dem Zug zu ihnen gekommen bin. Immer standen sie am Bahnhof. Immer war es das gleiche Gefühl. Immer war es schön. Jedes Mal war es ein Moment meines Lebens. Dabei war es doch nur ein Zug und ein kalter Bahnhof.
Momente meines Lebens? Weihnachten. Ich kann mich gegen den Zauber nicht wehren, mit denen meine Eltern uns als Kinder belegt haben. Der Duft, die Stimmen, die Gesichter. Meine Brüder.
Momente meines Lebens? Zu spüren, dass man verbunden ist. Für immer.
Momente meines Lebens sind immateriell. Konzerte, die ich nicht festhalten kann. Reisen, die in meinem Kopf so fest verankert sind. Geschichten, kleine Geschichten, die mich wärmen. Momente, in denen ich meine Kinder sehe. Absurd! Surreal! Das sind meine Kinder. Die sind in meinem Bauch gewachsen! Die sind real. Ihr Duft ist echt, ihre Liebe ist so authentisch, ihr ruhiger Atem, wenn sie schlafen, ihre Hände in meinen, ihr Lachen, ihre Wörter, ihre Gedanken, ihre Stimmen, ihre weichen Haare, die kleinen nackten Füße, die zarte Haut. Alles an ihnen ist real und doch manchmal so unfassbar, so unbegreiflich. So schmerzhaft schön. Jeder Satz, den sie sagen, umschlingt mich, jede Wut macht die Liebe noch fester, jede Berührung wärmt.
Momente meines Lebens? Zu wissen, dass man nicht allein ist. Zu merken, das Menschen bleiben. Zu sehen, dass meine Kindergartenfreundinnen noch immer neben mir sitzen, lachen und jetzt ihre eigenen Kinder halten. Vertrauen und Freundschaft. Menschen kommen und gehen. Und einige bleiben. Für immer.
Momente meines Lebens? Mein Mann Paul. Zu merken, dass Liebe gleichberechtigt ist. Das Liebe unendlich wächst. Das ein Mensch, den man vorher nicht gekannt hat, zum nächsten, engsten Vertrauten werden kann.
Momente meines Lebens: Diese surreale Zeit in New York. Neben jemandem zu gehen, den man kaum kennt. Neben jemandem aufzuwachen, dessen Gewohnheiten einem noch fremd sind. Mit jemandem eine Stadt zu erkunden, mit dem man noch nie gereist ist. Neben jemandem einzuschlafen, dessen ruhiger Atem einem noch nicht vertraut ist. Diese überwältigende erste Liebe, diese Kombination aus Aufregung, Unsicherheit, Hingabe.
Momente meines Lebens? Der Moment, in dem man merkt: Jetzt, gerade jetzt, habe ich alles richtig gemacht. Ich habe die richtigen Entscheidungen getroffen.
Und wenn ich morgen sterben würde, dann wüsste ich, das ich bis hierhin alles richtig gemacht habe.
Miriam Boettner ist Fotografin, Bloggerin und Autorin. Sie hat zwei Kinder, Emil und Ida. Und einen Mann: Paul. Mehr tolle Geschichten findest du auf ihrem Blog „Emil und Ida“. Wenn sie nicht in ihrer Heimatstadt Hamburg ist, reist sie mit ihren Kindern durch Deutschland, siehe „Kleine Landstreicher“.