Stillen ist die natürlichste Form, ein Baby zu ernähren. Es fördert die Bindung zwischen Mutter und Kind, stärkt das zarte Immunsystem, soll Allergien vorbeugen, kostet nichts und hat noch viele andere Vorteile. Doch was bei einigen Mamas schon nach wenigen Tagen mit dem Neugeborenen wie von Zauberhand klappt, bereitet sehr vielen (!) anderen Müttern große Probleme.
Viele frischgebackene Mamas wissen einfach nicht, wie sie ihr Baby richtig anlegen sollen. Und wenn der Teufelskreis aus schmerzenden, wunden Brustwarzen, Milchstau, Brustentzündungen und rückgängiger Milchbildung erst einmal da ist und das Baby vor Hunger und Stress nur noch weint, sind viele verständlicherweise kurz davor, aufzugeben und auf das Füttern mit der Flasche umzusteigen.
Die amerikanische Journalistin Michaeleen Doucleff kennt diese Probleme beim Stillen aus eigener Erfahrung. Sie fragte sich, warum das Stillen für uns Frauen immer mehr zur Herausforderung wird. Und das, obwohl es doch die natürlichste Sache der Welt ist und eigentlich wie von selbst klappen sollte.
Doucleff wollte wissen, ob es möglicherweise ein Phänomen der westlichen Zivilisation sein könnte, sozusagen ein kulturell bedingter Verlust unserer Instinkte. Darüber sprach sie mit der Anthropologin Brooke Scelza von der Universität Los Angeles.
Um mehr über das Geheimnis des Stillens herauszufinden, hatte Scelza vor einigen Jahren ein Volk im afrikanischen Namibia besucht: die Himba. Die Mütter dieses Stammes gebären ihre Babys noch ausschließlich zuhause, in Lehmhütten. Und sie alle stillen, ausnahmslos. Das Füttern mit dem Fläschchen ist in ihrer Kultur vollkommen unbekannt.
Das Stillen sieht bei den Himba so einfach aus, fand Scelza. Also, dachte sie sich, haben sie sicher keine Stillprobleme wie wir im Westen. Sie vermutete, dass die Himba durch ihre kulturelle Isoliertheit möglicherweise ihre Instinkte besser bewahren konnten und deshalb diese natürlichen Vorgänge hier selbstverständlicher klappten. Doch damit lag sie falsch.
Nachdem sie 30 Himba-Frauen detailliert interviewt hatte, stellte sie nämlich fest, dass diese vor allem in den ersten Tagen nach der Geburt genau dieselben Probleme haben wie wir: von der Angst, etwas falsch zu machen über die Unsicherheit, ob die Milch ausreichend ist, bis hin zu einigen Schwierigkeiten, das Baby richtig anzulegen. Daher kennen auch die Himba wunde Brustwarzen und alle anderen gängigen Stillbeschwerden.
Als Scelza fragte, wie sie mit den Herausforderungen des Stillens umgingen, fand sie deren Geheimwaffe heraus: die Großmütter.
„Wenn eine Frau entbinden wird, zieht sie im dritten Schwangerschaftstrimester für gewöhnlich zu ihrer Mutter, wo sie bis einige Monate nach der Geburt bleibt“, sagt Scelza. „Die Mütter schlafen sogar nach der Geburt neben ihnen in derselben Hütte und wecken die junge Mutter auf und sagen ‚Es ist Zeit dein Baby zu stillen!’“
Die Frauen der Himba haben also nicht unbedingt bessere Instinkte als wir. Aber sie haben ihre (Schwieger-)Mütter, die sie rund um die Uhr begleiten und ihnen all ihr Wissen rund um die Schwangerschaft, die Geburt und die Ernährung und Pflege des Neugeborenen weitergeben.
Die Großmütter der Himba tun somit das, was bei uns die Hebammen und Stillberaterinnen leisten: Sie leisten Hilfestellung bei der Versorgung des Babys. Und das ist kein Einzelphänomen, wie Doucleff herausfand. Auch in anderen afrikanischen und asiatischen Völkern ist es die Aufgabe der Großmütter, ihren Töchtern, Schwiegertöchtern und Nichten ihr Wissen zu vermitteln.
„In vielen asiatischen Kulturen praktizieren Frauen traditionell etwas, das sich ‚den Monat sitzen’ nennt, oder zuo yue zi auf Mandarin. 30 Tage lang bleibt eine Frau zurückgezogen in ihrem Zuhause und wird von Großmüttern, Schwägerinnen und Tanten umsorgt. Diese Frauen kochen und helfen der frischgebackenen Mama, sich von der Geburt zu erholen. Sie bringen ihr außerdem das Stillen bei“, fasst Doucleff das Ergebnis ihrer Recherchen zusammen.
In unserer Kultur ist das Mehrgenerationenhaus längst eine Rarität geworden, weshalb vielen Mamas dieses Lernen von der Großmutter nicht oder nur punktuell möglich ist. Doch keine Mama, die unter Stillproblemen leidet, muss sich verstecken. Stattdessen sollte sie sich bewusst machen, dass sie nicht allein ist. Jederzeit kann sie eine der Frauen um Rat fragen, die es sich in unserer Gesellschaft zur Aufgabe gemacht haben, in diesem Bereich zu helfen: eine Hebamme oder Stillberaterin.
Den Mut, sich Hilfe bei einer erfahrenen Vertrauensperson zu holen – ganz egal ob Oma, Hebamme oder Stillberaterin – macht vielleicht der zweite, etwas unscheinbarere Unterschied zwischen den Himba und uns, den Scelza herausfand: „Wenn es Schwierigkeiten beim Anlegen gibt, sagen sie nur ‚Ja, das ist eben ein Teil dessen, was du lernen musst, wenn du stillen willst.’“
Im Gegensatz zu vielen Frauen in unserer Kultur werden die Stillprobleme somit nicht als persönliches Scheitern der Mutter gewertet, sondern schlicht und ergreifend als Herausforderung, die eben dazu gehört und mit etwas Hilfe überwunden werden kann.
Quelle: „Secrets of breast-feeding from global moms in the know“ von Michaeleen Doucleff