Mein kleiner Großer,
ich sitze hier und beobachte dich. Du schaust dir ein Buch an und bist dabei ganz konzentriert. O Gott, wie sehr ich dich liebe.
Auf dem Schoß habe ich das Baby, deinen kleinen Bruder. Wie eigentlich immer seit zwei Wochen.
Ich denke daran zurück, wie unser Leben noch vor ein paar Wochen aussah. Es gab tagsüber, wenn Papa bei der Arbeit war, an den meisten Tagen nur dich und mich. Wir waren beste Freunde und haben zusammen die Welt erkundet. Unzertrennlich.
Dann brachte ich deinen kleinen Bruder mit nach Hause. Ich bin so verliebt in ihn, diesen perfekten winzigen Menschen, wie ich es damals in dich war. Aber du, du wunderst dich sicher, warum dieser Zwerg eigentlich ständig weint, ob er jetzt für immer bleibt – und warum zur Hölle er so viel meiner Aufmerksamkeit bekommt, die vorher ganz exklusiv dir zustand. Wahrscheinlich überlegst du immer noch, wie Papa und ich auf die Idee kommen, dass du ihn lieben solltest.
Und so sitze ich jetzt hier, wippe das Baby auf und ab und werde von Schuldgefühlen überwältigt, während ich dir zusehe. Du spielst alleine – etwas, das du nie getan hast. Etwas, dass du nie tun musstest!
Aber jetzt musst du. Denn das Baby braucht mich. Ja, ich weiß – du brauchst mich auch. Nur nicht mehr so für die offensichtlichen Dinge! Egal, was ich auch tue, ich vernachlässige einen von euch. Einen von euch beiden, die sich so tief in mein Herz geschlichen haben.
Ich wusste vorher nicht, wie es sich anfühlen würde, zwei Kinder so haben. Ich überlegte: Kann man zwei Menschen gleich stark lieben? Wirst du mir näher sein, weil wir uns nun schon so lange kennen und viel Zeit zu zweit hatten?
Inzwischen weiß ich: Bei der Geburt eines kleinen Geschwisterkinds teilt sich das Mamaherz nicht auf – es wird größer, damit jedes Kind eine Menge Platz darin hat. Mein Schoß und meine Zeit, die haben sich allerdings nicht vergrößert. Und so rotiere ich jeden Tag, um euch beiden gerecht zu werden. Aber ich muss mir eingestehen: 100 Prozent Mama, die wird keiner von euch mehr bekommen können.
Da schaust du von deinem Buch hoch und lächelst mich an. Du kletterst auf meinen Schoß und findest neben deinem schlafenden Bruder irgendwie deinen Platz, um mit mir zu kuscheln. Ich atme tief ein und habe deinen vertrauten Geruch in der Nase.
„Mama, ich hab dich so lieb!“, flüsterst du mir ins Ohr.
Und ich bin mal wieder überwältig davon, wie wundervoll du bist.
Du knutscht mich ab, obwohl ich jetzt immer so müde bin.
Ich bin deine „beste Freundin“, obwohl ich gestern nicht mehr mit dir auf den Spielplatz gegangen bin – das Baby war krank.
Ich bin „dein Schatz“, obwohl ich viel seltener deine Lieblingsgerichte zum Abendessen koche als noch vor ein paar Wochen.
Ich bin deine „beste Mami“, obwohl du ständig warten musst, bis du mir dein neuestes Lego-Bauwerk zeigen kannst… ich muss erst das Baby zu Ende wickeln, stillen, beruhigen…
Du hast mich lieb, obwohl du mich ständig teilen musst.
Vielleicht denkst du ja gar nicht dass ich dich im Stich gelassen habe – so wie ich es befürchtet habe?
Wie nur kann ein kleiner Mensch nur so wundervoll, so geduldig und großzügig sein?
Ich hab dich so lieb, egal, wer und was da noch kommen mag.
Deine Mami
Danke für diesen wundervollen Text. Wir bekommen in vier Wochen ein Baby und der Große ist schon ganz aufgeregt. Ich habe ein wenig bedenken, wie man es schafft, dass alle zufrieden sind. Und dein Text hat mir Mut gemacht, denn mein Grosser ist genauso verständnisvoll…wie du dein Kind beschrieben hast.
Dein positives Schreiben beruhigt mich. Danke
[…] gibt ganz unterschiedliche Szenarien, wenn ein bisheriges Einzelkind zum großen Bruder oder zur großen Schwester wird: Im besten Fall ist es stolz und schwer verliebt in das neueste […]