„Verlorene Kindheit”: Schwere Vorwürfe gegen bekannten Kinderpsychiater

Sein Bestseller „Warum unsere Kinder Tyrannen werden” traf in Deutschland einen Nerv und löste eine heftige Debatte aus. Seitdem war er immer wieder in verschiedenen Talkshows zu sehen, in denen er als hoch geschätzter Kinderpsychiater seine Meinung zum Besten gab. Dr. med. Michael Winterhoff galt als Experte auf seinem Gebiet, nun werden schwere Vorwürfe gegen ihn erhoben.

„Ich bin ein Opfer von Dr. Winterhoffs Spielchen, von Dr. Winterhoffs Macht, die er über die Kinder ausübt“, sagt die ehemalige Patientin Jana S. Gemeinsam mit anderen Betroffenen kommt sie in der am Montag ausgestrahlten ARD-Dokumentation „Warum Kinder keine Tyrannen sind” zu Wort. Es geht um zweifelhafte Diagnosen und sedierende Medikamente. Die Folgen für die Kinder sind gravierend.

„Frühkindlicher Narzissmus” als fragwürdige Standarddiagnose

Was die betroffenen Familien und Kinder in dieser Doku berichten, macht fassungslos: Offenbar hat Winterhoff immer wieder Kinder, die eigentlich besonderer Fürsorge bedürft hätten, mit der Diagnose „frühkindlicher Narzissmus” abgefertigt. Oft in Zusammenhang mit einer angeblichen „Eltern-Kind-Symbiose“, die gelöst werden müsste.

Er verschreibt deswegen im großen Stil ein Psychopharmakon mit sedierender Wirkung namens Pipamperon, das starke Nebenwirkungen entwickeln kann. Das Medikament steht in Verdacht, Fettleibigkeit, Diabetes und Herzerkrankungen auszulösen. Es gibt Hinweise, dass es dazu beiträgt, dass sich die Gehirnmasse verringert.

Widersprüchliche Angaben gegenüber Eltern und Krankenkasse

Die Macher der Doku sprechen bundesweit mit mehr als 30 Fachleuten, denen sie die Arztberichte Winterhoffs vorlegen. Diese kommen zu dem Ergebnis: Die von Winterhoff gestellten Diagnosen sind absolut unüblich und nicht nachvollziehbar. Stattdessen litten die Kinder unter ADHS, Angststörungen oder Tickstörungen.

In vielen Fällen gibt Winterhoff gegenüber der Krankenkasse offenbar andere Gründe für die Medikamente an. So finden entsetzte Eltern in den Unterlagen die Diagnose „posttraumatische Belastungsstörung” für ihr Kind, ohne, dass Winterhoff diese je ihnen gegenüber geäußert hätte. Glück haben die Kinder, deren Eltern eingreifen, weil ihnen die Methoden des Psychiaters merkwürdig vorkommen. Die auf ihr Bauchgefühl hören, sich eine zweite Meinung einholen und daraufhin die Behandlung sofort beenden.

Winterhoff betreut Hunderte von Heimkindern

Schlimmer hat es offenbar die Kinder getroffen, deren Eltern nicht schützend die Hand über sie halten konnten. Denn der Kinderpsychiater hat Kooperationen mit vielen Jugendhilfe-Einrichtungen und betreut hier Hunderte von Heimkindern. Ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner schildern, dass sie nur alle paar Monate für wenige Minuten den Kinderpsychiater sahen. Auf dieser dürftigen Grundlage kam Winterhoff zur immer gleiche Diagnose und verschrieb Pipamperon.

Eine Erzieherin, die jahrelang in Einrichtungen mit Winterhoff zusammengearbeitet hat, beschreibt das so: „Das ist immer so: Fährst du zum Winterhoff, hast du einen Narzissten und bekommst Pipamperon mit nach Hause.” Die Betreuer würden angewiesen, die Kinder nach einem „pädagogischen Programm” zu behandeln, das auf Strenge, Ignorieren oder Wegschicken beruhe.

„Das ist eine verlorene Kindheit.”

Für die Erzieherin steht fest, dass schon viele Kinder an diesem Konzept „psychisch kaputt gegangen” seien: „Das ist eine verlorene Kindheit. Das sind Jahre, die wir denen klauen.” Durch das Medikament würden die Kinder nur noch „wie Roboter” durch die Gegend laufen. Laut dem Hamburger Kinderpsychiater Schulte-Markwort handelt es sich bei Pipamperon eigentlich um ein Notfallmedikament, das für kurze Zeit verabreicht wird, „wenn ein Kind in einen psychomotorischen Erregungszustand gerät.“ Es habe keine Indikation für eine Langzeitbehandlung.

Inzwischen gibt es eine Stellungnahme zu den Vorwürfen auf der Homepage von Dr. Winterhoff. Hier rechtfertigt er die Gabe von Pipamperon damit, dass die Kinder „ihre Aggressionen kontrollieren” können und „im Konflikt“ erreichbar sein sollen. Dies funktioniere in seiner Praxis gut, viele junge Patienten habe er so erfolgreich therapieren können. „Ich sehe die Patienten regelmäßig und ermögliche auch kurzfristige Termine. Im Laufe der Behandlung überprüfe ich immer wieder, ob das Medikament überhaupt oder in einer niedrigen Dosierung notwendig ist.“

Wer an seinen Methoden zweifelt, hat plötzlich ein ganzes System gegen sich

Doch die Jugendamtsakten so mancher Heimkinder zeichnen ein anderes Bild: Sie belegen eine Dauermedikation durch den bekannten Kinderpsychiater. Wenn Angehörige versuchten, sich dagegen zu wehren, müssen sie erleben, wie sich ein ganzes System gegen sie wendet: Eine Mutter und auch eine vom Gericht bestellte Vormünderin, die das Mittel bei Kindern reduzieren oder absetzen wollten, erzählen, dass sich Winterhoff dafür einsetzte, ihnen das Sorgerecht zu entziehen. In einem Fall gelingt es ihm tatsächlich, das Gericht davon zu überzeugen.

Obwohl seine Methoden in Fachkreisen schon lange als unwissenschaftlich kritisiert wurden, arbeitet Michael Winterhoff bis heute in Kindereinrichtungen und hält fleißig Vorträge. Schuld ist wahrscheinlich auch die mediale Aufmerksamkeit, die Winterhoff bekam. Viele Familien ließen sich von seiner Bekanntheit blenden, vertrauten auf seine Prominenz. Immer wieder wurde er in Talkshows eingeladen und als einer der besten Kinderpsychiater Deutschlands vorgestellt.

„Befremdliche” Untersuchungen des Genitalbereichs

Doch die Nachforschungen der ARD werfen noch andere, schreckliche Fragen auf. Es kommt der Verdacht auf, dass der Arzt seine Position womöglich ausgenutzt hat, um die Kinder an ihren Geschlechtsteilen zu berühren. Darauf lassen zumindest die Aussagen zweier junger Männer schließen, die als Kinder bei Winterhoff in Behandlung waren.

Untersuchungen des Anal- und Genitalbereichs seien in der Kinderheilkunde üblich, aber in der Kinderpsychiatrie „mehr als befremdlich”, ordnet Kinderpsychiaterin Ulrike Mattern-Ott die beschriebenen „Untersuchungen” durch Winterhoff ein.

Enormes Echo in den sozialen Medien

In den sozialen Medien gab es ein großes Echo auf die ARD-Dokumentation. So sammelte Kinderpsychiater Dr. med. Oliver Dierssen auf Twitter schockierende Schilderungen von Eltern und betroffenen Kindern. Sie alle stützen das in der Doku gezeichnete Bild und verdeutlichen, wie viele Menschen bis heute unter Winterhoff leiden.

Unter dem Hashtag „#wegMitWinterhoff” wenden sich immer mehr Twitternutzer an die Medien und fordern, Winterhoff nicht mehr in die Talkshows einzuladen. Ob es damit getan ist? Die heute 20-Jährige Jana kämpft nun bei der Ärztekammer darum, dass das, was sie durchmachen musste, Konsequenzen hat. Ihr hatte Michael Winterhoff mehr als drei Jahre lang Pipamperon verabreicht, ab dem Alter von sieben Jahren.

„Das wird mich nie in Ruhe lassen. Das ist eben auch das Gesundheitliche. Wer weiß, was in den nächsten Jahren kommt“, sagt die junge Frau. 

Die Dokumentation „Warum Kinder keine Tyrannen sind” findet ihr in der ARD-Mediathek. Dort könnt ihr sie euch voraussichtlich noch bis zum 9. August 2022 anschauen.

Lena Krause

Ich lebe mit meinem kleinen Hund Lasse in Hamburg und übe mich als Patentante (des süßesten kleinen Mädchens der Welt, versteht sich). Meine Freundinnen machen mir nämlich fleißig vor, wie das mit dem Mamasein funktioniert. Schon als Kind habe ich das Schreiben geliebt – und bei Echte Mamas darf ich mich dabei auch noch mit so einem schönen Thema befassen. Das passt einfach!

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