In den Medien sind sie gern der aktuelle Sündenbock für verzogene Kinder: Die sogenannten Helikoptereltern – überbesorgte Mamas und Papas. Doch auch das andere Extrem ist gefährlich:
Eltern nämlich, die ihre Kinder vernachlässigen, mit zum Teil gravierenden, lebenslangen Folgen für das Kind.
Über Vernachlässigung wird jedoch viel weniger gesprochen als über Eltern, die ihre Kinder täglich bis in die Schulklasse hineinbringen. Und doch hat die Vernachlässigung für Kinder sehr viel schlimmere Auswirkungen. Sie können sogar lebensbedrohlich sein.
Zwar gibt es bei uns bisher keine zuverlässigen, umfassenden Zahlen zur exakten Häufigkeit nachgewiesener Vernachlässigungsfälle. Doch das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen hat in seinem Leitfaden für Ärzte einige Daten zusammengestellt, die ein Bild der Situation zeichnen:
So ergab eine stichprobenartige Untersuchung der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie / Psychotherapie Ulm bei 21 Kinderbetreuungseinrichtungen, dass bei 5,3 Prozent der betreuten Kinder Anzeichen für eine Vernachlässigung vorlagen.
Die Kinderklinik der Universität München stellte in einer Längsschnittstudie fest, dass bei 2 bis 3 Prozent der Patienten eine Vernachlässigung oder Misshandlung vorgefallen war.
Was genau heißt eigentlich „vernachlässigt“?
Muss ich mir schon Sorgen machen, wenn ich mein Kleinkind ab und zu vor den Fernseher setze und eine Kindersendung anmache? Wird das Jugendamt auf mich aufmerksam, wenn ich mein 5-jähriges Kind allein zum Bäcker um die Ecke schicke? Sicher nicht!
Wann genau eine Vernachlässigung vorliegt, hat uns Kriminaloberrat Harald Schmidt, Geschäftsführer Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes in Stuttgart erklärt:
„Vernachlässigung bedeutet, dass ein Kind das für seine körperliche und seelische Entwicklung notwendige Maß an Fürsorge nicht beziehungsweise nicht ausreichend bekommt.“
Sie kann in verschiedenen Formen vorkommen, nämlich als körperliche Vernachlässigung, zum Beispiel indem ein Kind unzureichend Nahrung, Flüssigkeit, saubere Kleidung, Wohnraum und medizinischer Fürsorge erhält.
Von unzureichender Beaufsichtigung spricht man, wenn das Kind längere Zeit alleine in der Wohnung ist, oder sich die Eltern nicht kümmern, wenn das Kind längere Zeit abwesend ist.
Auch mental kann ein Kind vernachlässigt werden, wenn es kaum oder keine Anregungen bekommt, zum Beispiel nicht mit ihm gesprochen oder gespielt wird.
Und dann ist da noch die emotionale Vernachlässigung, bei der dem Kind die notwendige Wärme und Aufmerksamkeit durch die Eltern verweigert wird.
Kinder, die vernachlässigt werden, sind in ernstzunehmender Gefahr. Besonders bei Babys kann sie sogar lebensbedrohlich sein. Wird ein Baby nur eine Nacht oder einen Tag lang nicht mit Nahrung versorgt, kann dies bereits fatale Folgen für dessen Gesundheit haben.
Zu allem Übel tritt Vernachlässigung besonders häufig bei Kindern unter drei Jahren auf (etwa 30 Prozent). Jedes fünfte vernachlässigte Kind hat nicht einmal das erste Lebensjahr vollendet. Das ergaben Untersuchungen von 318 Fällen von Kindeswohlgefährdung aus 16 verschiedenen Jugendämtern.*
Wie genau wirkt sich die Vernachlässigung aus?
Kinder, die über Jahre vernachlässigt werden, sind besonders anfällig für Depressionen und Ängste. Sie ziehen sich sozial zurück, schwänzen häufig die Schule, zeigen unterdurchschnittliche Leistungen.
Auf der anderen Seite können auch unkontrollierte Aggressionen, Unruhe, Hyperaktivität als Auswirkungen der Vernachlässigung auftreten, wodurch die Kinder meist tiefer in die soziale Isolation geraten.
Diese Anzeichen können sich im Extremfall sogar bis zu einer psychiatrischen Störung steigern.
Warum tun Eltern das überhaupt?
Vernachlässigung entsteht oft aus einer Situation der Überforderung. Junge Eltern stehen plötzlich vor einer großen Verantwortung. Es fehlt ihnen die Unterstützung eines sozialen Netzes aus Großeltern, Tanten, Onkeln und Nachbarn, das früher selbstverständlich war.
Stattdessen sind sie auf sich allein gestellt. Dazu kommen nicht selten auch finanzielle Probleme.
So gibt es eine Reihe definierter Risikofaktoren, bei denen eine Vernachlässigung der eigenen Kinder wahrscheinlicher wird. Zu diesen Faktoren gehören vor allem Armut, Sucht-Probleme, Streit zwischen den Eltern sowie eine Traumatisierung von Mutter und / oder Vater, die in ihrer eigenen Kindheit selbst Opfer von Vernachlässigung oder sogar Gewalt und Kriminalität wurden.*
Diesen Eltern fehlt aufgrund ihrer eigenen Geschichte oft das Verständnis für die Bedürfnisse ihres Kindes. Sie haben nie die Fähigkeit erlernt, sich in andere Menschen hinein zu fühlen und können deshalb auch keine Empathie für ihr eigenes Kind empfinden. Stattdessen reagieren sie aggressiv, herablassend oder zurückweisend auf ihr Kind, wenn es Bedürfnisse äußert.*
Auch eine ungewollte Schwangerschaft oder eine Wochenbettdepression können Auslöser sein, seinem Kind die Fürsorge vorzuenthalten. Hier kann eine Entlastung und therapeutische Betreuung der Mutter viel bewirken.*
Was wir als Außenstehende tun können
Natürlich werden Kinderärzte und Erzieher darauf geschult, Anzeichen für eine Vernachlässigung zu identifizieren und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.
Doch auch du kannst helfen, wenn du im Umfeld, in deiner Nachbarschaft oder im Freundeskreis eine Vernachlässigung vermutest. Denn oft werden vernachlässigte Kinder nur unregelmäßig beim Kinderarzt vorgestellt oder in eine Krippe gegeben.
Was genau du tun kannst und wie du es tun solltest, hat uns Margot Czekal, Geschäftsführerin des Bereichs Pädagogik vom Kinderschutzbund Landesverband Bayern, erklärt:
„Wie weit ich als Außenstehende eingreifen kann, hängt immer von der Gesamtsituation ab. Wenn ich die Eltern gut kenne, kann ich sie durchaus direkt ansprechen. Allerdings erfordert das viel Fingerspitzengefühl.
Es sollte unbedingt einfühlend formuliert werden, denn ein Vorwurf kann dazu führen, dass die Eltern sich verschließen. So kann ich zum Beispiel fragen: ‚Ich habe bemerkt, dass es dir nicht gut geht. Kann ich dir helfen?’ oder ‚Ich sehe, dass du viel Stress hast. Kann ich dich irgendwie unterstützen oder dir etwas abnehmen?’
Manchmal kommt so ein Gespräch in Gang und ich kann den Betroffenen dabei helfen, professionelle Hilfe zu finden.
Wird verneint, kann ein ‚Du weißt, wo du mich findest. Ich bin gern für dich da.’ helfen. So bleiben die Türen offen.“
Laut Margot Czekal kann auch dem betroffenen Kind direkt Hilfe angeboten werden, indem man als Außenstehender einfach zuhört, sich mit dem Kind beschäftigt, mit ihm spielt und so gemeinsam schöne Erlebnisse schafft.
So hat das Kind eine Art sicheren Hafen, den es aufsuchen kann. Allerdings ist es wichtig, in dieser Beziehung zum Kind keine Position zu beziehen. Das heißt, die Situation oder die Eltern des Kindes sollten nicht beurteilt werden.
Was du aber anbieten kannst, ist, dem Kind zu helfen, dass sich an der Situation etwas ändert, wenn es das möchte.
„Besteht kein persönlicher Kontakt zu den Eltern oder den betroffenen Kindern“, erklärt Margot Czekal weiter, „sollten sich Außenstehende nicht davor scheuen, beispielsweise das Jugendamt zu kontaktieren.
Es wird die Situation zunächst überprüfen und einschätzen und sich nur dann einschalten, wenn es wirklich nötig ist. Die Aufgabe des Jugendamts ist es, zu beraten und vorbeugende Hilfsmaßnahmen einzuleiten.
Es wird das Kind also nicht aus der Familie nehmen, wenn es nicht zwingend notwendig ist. Bevor ein so gravierender Eingriff veranlasst wird, erfolgen zunächst viele andere Angebote der Beratung und Unterstützung.“
Neben dem Jugendamt kannst du dich auch an die Telefonseelsorge unter 0800/111 0 111, den Kinderschutzbund („Nummer gegen Kummer“ unter 0800 111 0550) oder die örtliche Polizeistelle wenden, wenn du eine Vernachlässigung in deinem Umfeld vermutest und nicht sicher bist, wie du helfen kannst.
Ratsuchende Eltern und insbesondere Mütter finden hier Hilfe und Unterstützung:
Telefonseelsorge: 0800 / 111 0 111
Nummer gegen Kummer – Elterntelefon: 0800 111 0550 (montags bis freitags von 9 bis 11 Uhr, dienstags und donnerstags 17 bis 19 Uhr)
Weißer Ring, Einrichtung für Opferhilfe und Opferschutz: 116 006
Außerdem gibt es in den meisten Städten und Landkreisen Erziehungsberatungsstellen. Eine Suchfunktion für eine Stelle in deiner Nähe findest du auf der Internetseite der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (BKE). Erziehungsberatung gibt es von der BKE auch als Mailchat über ein sicheres Mailkonto im Internet. Infos dazu findest du hier: eltern.bke-beratung.de.
Wenn Kinder in Not sind, dürfen wir nicht einfach wegsehen!
* Quelle: Gewalt gegen Kinder und Jugendliche – Erkennen und Handeln, Leitfaden für Ärztinnen und Ärzte des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen