Bei eineiigen Zwillinge liegt der Gedanke nahe, dass sie automatisch auch ein sehr ähnliches Wesen haben (müssen). Deshalb neigen viele Menschen dazu, beide Kinder gleich oder sogar als Einheit zu behandeln. Manche Eltern geben ihren Zwillingen ähnliche Vornamen, ziehen beide Kinder von klein auf gleich an, suchen ihnen die gleichen Hobbys usw. Und auch, wenn sie es grundsätzlich gut meinen, tun sie ihren Kindern damit in vielen Fällen keinen Gefallen. Denn für Zwillinge ist Individualität mindesten genauso wichtig wie für Kinder ohne Zwilling! Warum das so ist, und welche Folgen es haben kann, wenn Zwillinge nicht als einzelne Personen wahrgenommen werden, hat Zwillingsexpertin Ilka Poth uns erklärt. Sie hat selbst eine eineiige Zwillingsschwester und kennt das Thema aus eigener Erfahrung. Ihre Tipps, mit denen du die Individualität deiner Zwillinge fördern kannst, hat sie uns auch verraten:
1. Liebe Ilka, als Zwillingskind: Wie wichtig war und ist dir Individualität?
„Als Kind wusste ich noch nicht, was Individualität ist. Zwillinge lernen erst mit etwa 1 ½ Jahren, wenn sie krabbeln und anfangen zu laufen, ganz allmählich, dass sie zwei eigenständige Wesen sind. Davor fühlen sie sich als Eins mit ihrem Zwilling. Weil meine Schwester und ich als Kinder immer zusammen waren und alles gemeinsam machten, hatten wir kein klares Gefühl dafür, was Individualität bedeutet.
Ab der Pubertät wurde die Entwicklung einer eigenen Identität sowie Unabhängigkeit und Individualität für uns sehr wichtig – wie bei Einlingen auch. Während Einlinge vor allem lernen müssen, sich von ihren Eltern abzugrenzen, müssen Zwillinge zusätzlich lernen, sich voneinander abzugrenzen. Das macht den Prozess für Zwillinge oft schwieriger und komplizierter.
Meine Schwester war damals weiter als ich und wollte sich von mir abnabeln, bevor ich dazu bereit war. Da wir als Kinder nie wirklich voneinander getrennt waren und selten Dinge ohne die andere machten, war diese Zeit für mich besonders schwierig. Meine Schwester wollte sich von mir loslösen, während ich unsere enge und abhängige Beziehung gerne weitergeführt hätte, was mir bzw. uns damals aber nicht bewusst war. Dieses meist unbewusste Dilemma ist typisch für viele Zwillinge in der Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter.
Auch heute noch ist Individualität für uns wichtig, weil sie es uns ermöglicht, unsere eigene Identität zu leben, während wir unsere Zwillingsbeziehung weiterhin wertschätzen.“
2. Wie wichtig ist Individualität denn grundsätzlich für Zwillinge?
„Individualität ist für Zwillinge genauso wichtig wie für alle anderen Menschen. Nur durch die Förderung ihrer Individualität können sie sich als Erwachsene erfolgreich voneinander trennen, ihr eigenes Leben führen und eigene Beziehungen aufbauen. Das Entwickeln einer eigenen Identität ist für Zwillinge jedoch erheblich schwerer als für Einlinge. Deshalb brauchen sie die Unterstützung ihrer Eltern.“
3. Warum kann es zu Identitätsproblemen kommen?
„Das kann mehre Gründe haben:
Zwillinge entwickeln bereits im Mutterleib eine primäre Bindung, aus der sich nach der Geburt eine gemeinsame Identität entwickelt. Sie haben zwei Identitäten: eine gemeinsame und eine eigene Identität. Wenn Eltern ihre Zwillinge nicht bei der Entwicklung ihrer eigenen Identität unterstützen, bleibt die Zwillingsidentität sehr stark und mächtig, was dazu führen kann, dass sie eine große Abhängigkeit voneinander entwickeln. Diese Abhängigkeit hat wiederum erhebliche Auswirkungen auf ihre persönliche Entwicklung und ihre Zwillingsbeziehung.
Da Zwillingseltern oft dem Mythos über Zwillinge unterliegen, denken sie zum Beispiel, dass ihre Kinder gleich aussehen sollten oder finden es niedlich. Sie mögen die zusätzliche Aufmerksamkeit, die sie dadurch von außen bekommen. Sie lassen ihre Kinder alles zusammen machen, sodass sie gemeinsame Freunde und Hobbys haben. Das kann dazu führen, dass Eltern, Familie und Außenstehende die Kinder als eine Person wahrnehmen – als „die Zwillinge“.
Durch das gleiche Aussehen kommt es vermehrt zu Verwechslungen und zu Vergleichen, weil Außenstehende nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten suchen. Dadurch wird der Wettbewerb und die Konkurrenz zwischen den Zwillingen verstärkt. Zwillinge müssen jedoch herausfinden, wer sie ohne den anderen sind – und das geht nicht, wenn sie sich tagtäglich im Wettbewerb miteinander befinden.“
Manche Zwillingseltern sehen und behandeln die Kinder als Einheit
„Manche Eltern tun sich auch sehr schwer, ihre Zwillinge als zwei eigenständige Individuen zu sehen, weil es ihnen schwerfällt, mit zwei Kindern gleichzeitig umzugehen. Stattdessen sehen und behandeln sie ihre Zwillinge als eine Einheit. Zum Beispiel sprechen sie die Kinder selten mit ihren eigenen Namen an, sondern nennen sie „die Zwillinge“, „die Beiden“ oder „ihr Zwei“. Oft werden auch ähnliche oder reimende Vornamen gewählt, oder die Kinder werden immer gleich angezogen. Manche Eltern betrachten und behandeln ihre Zwillinge auch als zwei Hälften eines Ganzen – als Gegensätze, die zusammen EINS sind. All das führt dazu, dass Zwillinge sich selbst als eine Person wahrnehmen. Die Folge davon ist, dass sie voneinander abhängig werden, weil sie sich in ihren Stärken ergänzen und nicht lernen, ihre jeweiligen Schwächen zu stärken.
Ein weiterer Grund für Identitätsprobleme ist, dass Zwillinge aufgrund der hohen Belastung ihrer Eltern oft sich selbst überlassen werden. Und zwar mehr als das bei Einlingen der Fall ist. Eltern denken, dass ihre Kinder ja zu zweit sind und sich gegenseitig haben, wodurch sie weniger Zeit mit ihnen verbringen. Zwillinge ziehen sich dadurch stärker in ihre eigene Zwillingswelt zurück. Für eine gesunde Identitätsentwicklung ist es jedoch sehr wichtig, dass Zwillinge individuelle Zeit mit ihren Eltern verbringen – Zeit, in der nur sie und ihre eigenen Bedürfnisse unabhängig von ihrem Zwilling gesehen und gefördert werden.“
4. Wie kann ich die Individualität meiner Zwillinge fördern? Hast du Tipps?
Exklusivzeit mit einem Kind verbringen
„Die Individualität von Zwillingen können Eltern fördern, indem sie jedem Kind Einzelzeit mit Mama und Papa schenken und dabei die Bindung ihrer Zwillinge respektieren – bis ins junge Erwachsenenalter hinein. Dabei sollten Eltern behutsam vorgehen und in kleinen Schritten beginnen, zum Beispiel indem ein Elternteil mit jedem Kind in einem anderen Zimmer spielt oder ein Zwilling auch mal alleine gebadet wird.
Die Trennungszeiten können dann ganz langsam gesteigert werden. Zu Beginn werden Zwillinge es vielleicht nicht immer mögen, aber mit der Zeit werden sie es richtig toll finden und sich darauf freuen. Wichtig ist, dass diese Zeiten nicht immer große Aktivitäten beinhalten müssen: Ein Einkauf mit einem Elternteil oder ein Spaziergang tut es genauso.“
Mit eigenen Namen ansprechen
„Menschen definieren sich durch ihre eigenen Vornamen – das gilt auch für Zwillinge. Auch wenn Zwillinge sich wegen der häufigen Verwechslungen daran gewöhnen, mit dem Namen des anderen angesprochen zu werden oder auf den Namen des anderen zu reagieren, ist es für die Entwicklung der eigenen Identität wichtig, mit dem eigenen, für sie ausgesuchten Namen angesprochen zu werden.
Ebenso sollten Eltern es vermeiden, die Namen zu kombinieren, wie zum Beispiel Max und Milan zu „Maximilian“ zusammenzusetzen. Jeder Zwilling hat das Recht auf seine eigene Identität, und dazu gehört auch der eigene Name.“
Unterschiedlichkeit fördern
„Zwillinge sind unterschiedlich – selbst eineiige. Auch wenn eineiige Zwillinge sehr oft ähnliche Interessen haben, gibt es immer Dinge, die sie voneinander unterscheiden. Diese Unterschiede gilt es herauszufinden und zu fördern, sei es durch verschiedene Hobbys, Neigungen oder Interessen.
Eltern können diese Unterschiede prima durch Einzelzeit entdecken. Unterschiedlichkeit wird auch gefördert, indem Zwillinge nicht gleich angezogen werden – es sei denn, sie wollen es selbst. Es ist auch wichtig, dass sie Namen bekommen, die nicht zu ähnlich sind oder im Zusammenhang stehen, um ihre Eigenständigkeit zu unterstützen.“
Auf Grenzsetzung zwischen den Zwillingen achten
„Dazu gehört zum Beispiel, dass Eltern ihre Zwillinge dabei unterstützen, dass sie eigene Freundschaften haben, eigene Entscheidungen treffen, nicht immer gleich behandelt werden und unterschiedliche Schulerfahrungen machen dürfen.
Wenn beispielsweise nur ein Zwilling zu einem Geburtstag eingeladen wird, sollten Eltern das akzeptieren, und es nicht als Affront gegen den anderen Zwilling sehen. Stattdessen können sie dem nicht eingeladenen Zwilling die Situation erklären und die Gelegenheit nutzen, um „Primetime“ mit ihm zu verbringen.“
Kinder nicht vergleichen
„Zwillinge werden von Geburt an miteinander verglichen – von Eltern, der Familie, Freunden und von ganz fremden Menschen. Dieses viele Vergleichen führt dazu, dass Zwillinge sehr früh anfangen, sich selbst ständig miteinander zu vergleichen, sich gegenseitig zu messen und zu bewerten.
Das setzt sie unter großen Stress und fördert den Wettbewerb, der ihre Identitätsentwicklung beeinträchtigen kann. Diese ständigen Qualitäts- und Leistungsvergleiche hindern sie daran, ihre eigene Individualität zu entdecken und auszuleben.“
Zwillinge bei ihrem Trennungsprozess begleiten
„Wenn Zwillinge beginnen, eigene Wege zu gehen, kann es vorkommen, dass sich einer mehr lösen möchte als der andere. Es ist wichtig, dass Eltern den Zwilling, der sich lösen möchte, gehen lassen und den Zwilling, der Probleme mit dem Loslassen hat, emotional unterstützen.“
Nicht als eine Person sehen und behandeln
„Wenn Zwillinge als eine Person gesehen und behandelt werden, sehen sie sich selbst auch als eine Person. Das erschwert die Entwicklung einer eigenen Identität, fördert die gegenseitige Abhängigkeit und macht eine spätere Trennung sehr schwierig, manchmal sogar unmöglich.“
Nicht zu viel teilen lassen
„Zwillinge teilen sich schon seit dem Mutterleib alles – das ist für sie ganz normal. Im Gegensatz zu Einlingen müssen Zwillinge jedoch lernen, nicht immer alles zu teilen. Deshalb ist es wichtig, dass sie eigene, individuelle Dinge und nicht nur doppelte Spielsachen oder Kleidung haben. Sie brauchen persönliche Gegenstände, die nur ihnen gehören und die der andere Zwilling sich zwar ausleihen darf, aber zurückgeben muss.
Nur so lernen sie den Unterschied zwischen „meins“ und „deins“. Natürlich können Zwillinge auch gemeinsame Sachen haben. Niemand braucht zwei Trampoline im Garten. Aber sie sollten trotzdem persönliche Besitztümer haben, um ihre Eigenständigkeit zu fördern.“
5. Und wann sollte ich damit anfangen?
„Von Geburt an!“
Vielen Dank, liebe Ilka!
6. Du bist auch Zwillings-Mama oder mit Zwillingen schwanger? Dann schau mal hier:
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