Auf meiner Reise durch Kambodscha habe ich sie bereits gesehen, denn Kinderarmut ist hier allgegenwärtig: Kleine Kinder, die in Müllbergen am Straßenrand spielen; Kinder, die in Fabriken arbeiten und nicht in eine KiTa oder eine Schule gehen; Kleinkinder mit zerschlissenen Kleidern, die um Geld oder etwas zu essen betteln. In einem Entwicklungsland ist Kinderarmut greifbar und täglich präsent. Doch wie sieht es hier in Deutschland aus? Wo gibt es sie, die Kinderarmut, von der Politik und Medien sprechen? Wie leben die armen Kinder in einem „reichen Land“?
Kinderarmut mitten in Deutschland?
Im „Löwenladen“ am Kastanienboulevard in dem Berliner Stadtteil Marzahn-Hellersdorf lerne ich ein paar von den Kindern kennen, die in armen Verhältnissen aufwachsen. Für einige Wochen arbeite ich hier als Mitarbeiterin von Librileo, einem gemeinnützigen Unternehmen, das Familien kostenlose Bücher-Abos anbietet. Der „Löwenladen“ ist ein sozialer Pop-Up Store für Familien – ein temporäres Projekt, das ein kostenfreies Freizeit- und Beratungsangebot für Eltern und Kinder in schwierigen Lebenslagen anbietet.
Marzahn-Hellersdorf gilt seit Jahren als ein sozialer Brennpunkt, die Kinderarmut ist laut Statistik hoch. Demnach wachsen 41 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren in Marzahn-Hellersdorf in Familien auf, die Hartz IV beziehen. Bei den unter 6-Jährigen ist der Anteil mit 43 Prozent sogar noch etwas höher – der vierthöchste Wert aller Bezirke in Berlin. Und natürlich ist das nicht der einzige Bezirk in einer Großstadt, in dem Kinder und Familien leiden.
Marzahn-Hellersdorf kenne ich bisher nicht. Ich selbst habe großes Glück und wohne und lebe in Prenzlauer Berg, einem Stadtteil von Berlin, der als Zuhause von wohlhabenden Familien und den sogenannten Helikopter-Eltern gilt. „Sozialer Brennpunkt,“ „Boulevard der traurigen Händler” und “„Willkommen in der Tristesse…Die Geschichte eines Niedergangs”: Mit diesen Worten wird Marzahn-Hellersdorf oft beschrieben.
Vor Ort bei den Kindern
Graue Plattenbauten, Melancholie und Hoffnungslosigkeit, leerstehende Geschäfte mit verstaubten Fensterfronten: Genau in einer dieser Leerstandsflächen haben wir den “Löwenladen” für Familien eingerichtet. Für zwei Wochen bieten wir in dem kleinen Laden täglich ein wortwörtlich buntes Programm für die anwohnenden Familien an: Lesestunden im Bilderbuchkino, Bastelstunden, Kochkurs sowie verschiedene Hilfsangebote und Beratungen zum Bildungs- und Teilhabepaket.
Luca, Samir und Jennifer – jeden Tag kommen neue Kinder in den “Löwenladen.” Zunächst ein wenig zögerlich, doch nach ein paar Tagen immer mehr und schließlich immer dieselben. Nach wenigen Tagen ist der kleine „Löwenladen“ nach Schul- und KiTa-Schluss stets rappelvoll. Es ist laut und voll, manchmal – das müssen wir gestehen – kommen wir auch an unsere Grenzen. Denn viele der Kinder halten sich nicht an die Regeln, Grenzen werden immer wieder ausgetestet und manche Kinder leben ihr Gefühlschaos aus.
Kinderarmut: Klischee vs. Realität
Einige der Klischees über Kinderarmut treffen zu: Vielen der Kinder vom Kastanienboulevard fehlt es an angemessenen Wohnverhältnissen und der passenden Kleidung. Auch an regelmäßigen und ausgewogenen Mahlzeiten mangelt es in vielen Familien.
Eine Nachbarin berichtet, dass viele der Kinder nicht richtig gekleidet sind. Daher strickt sie Pullover, Schals und warme Socken, die sie dann an die Kinder verteilt. Viele Kinder kommen täglich hungrig in den „Löwenladen“.
Abgehängt und ausgegrenzt: Kinderarmut macht sprachlos
Während ihrer Zeit im bei uns erzählen die Kinder von Zuhause, von dem Bruder, der im Gefängnis sitzt; von den kleinen Plastikkarten, mit denen sie die Haustüren aufmachen, um zumindest in den Hausflur des Wohnblocks zu gelangen, wenn es draußen dunkel oder zu kalt ist. Die Kinder erzählen von der Traurigkeit und den Sorgen der Eltern, der bedrückenden Stimmung Zuhause und davon, dass sie nicht mit dem neuen Freund der Mutter zurechtkommen. Manchmal fallen Sätze, wie:
„Ich kann das eh’ nicht! Meine Mama sagt, ich bin doof!”
„Ich darf erst heute Abend ab sechs wieder in unsere Wohnung!”
„Ich weiß gar nicht, wo ich heute Nacht schlafen soll… bei mir Zuhause geht das gerade nicht!”
An diesen Tagen sind meine Kollegen und ich sprachlos. Sprachlos, weil wir das Glück hatten, selbst so etwas in unserer Kindheit nicht erlebt zu haben. Sprachlos, weil es uns traurig und wütend macht, dass Kinder in unserer Gesellschaft so aufwachsen müssen. Sprachlos, weil diese Kinderarmut so verdammt lähmend ist.
Was sagt man zu einem Jungen, der sich selbst nichts zutraut, weil es seine Eltern offenbar auch nicht tun? Was sagt man zu den beiden Mädchen, die morgens möglichst früh die Wohnung verlassen sollen und erst am Abend wieder dorthin zurückkehren dürfen? Was sagt man zu einem 7-jährigen Jungen, der abends kein Dach über dem Kopf hat und bei seinem Freund Unterschlupf finden muss?
In diesen Situationen versuchen wir einfach für die Kinder da zu sein, sie ein wenig zu trösten und auch ein wenig Ablenkung vom Alltag zu schaffen.
Kinder stärken
Abgehängt und ausgegrenzt, mit diesen beiden Wörtern kommen wir hier immer wieder in Berührung – Wörter, die das Aufwachsen in armen Verhältnissen ganz gut zusammenfassen. Denn beides lernen die Kinder, die hier in Armut aufwachsen, schon in frühen Jahren kennen. Hautnah erleben wir, dass es in den Familien nicht genug Geld für Essen oder Kleidung gibt. Auch für Fördermöglichkeiten in der Schule, für Freizeitangebote am Nachmittag oder gar Urlaub ist oftmals kein Budget vorhanden. Im Vergleich mit anderen Kindern, die in finanziell besser gestellten Familien aufwachsen, haben arme Kinder schlechtere Chancen im Leben und müssen stärker in allen Bereichen kämpfen, um nicht abgehängt zu werden.
Für uns steht fest: Um Kinderarmut zu bekämpfen muss man die Kinder und auch ihre Familien stärken. Kinderarmut darf für kein Kind in Deutschland Alltag sein. Kinderarmut darf in unserer Gesellschaft nicht in Vergessenheit geraten. Kinderarmut darf Kindern nicht den Mut und die Chancen auf ein besseres Leben nehmen.
Am letzten Tag umarmt mich der sonst sehr coole und laute Luca und drückt mir ein selbstgemaltes Bild in die Hand. „Hab ich für Dich gemalt! Ich glaub ich kann doch was,” murmelt er dabei. “Doof bin ich vielleicht nur dann, wenn ich zu früh aufgebe.”
P.S. Danke an Anya Weimann für diesen Text.