Mein Kind soll lernen, dass Weinen kein Zeichen von Schwäche ist

„Mama, müssen große Leute niemals weinen?“ fragte mich meine Tochter mal, während ich ihr nach einem Sturz gerade die letzten Tränchen von ihren Wangen tupfte.

Ich schmunzelte: „Oh doch, na klar müssen wir Erwachsenen auch mal weinen. Vielleicht nicht mehr so oft wie Kinder, aber – doch, natürlich!“

„Aber ich habe dich noch nie weinen sehen, Mama. Du weinst nie!“

„Doch, das tue ich. Es ist nämlich völlig normal und okay zu weinen,“ erklärte ich ihr im Brustton der Überzeugung.

Doch als ich sie abends ins Bett brachte und ihr noch ein wenig beim Schlafen zusah, wurde ich dennoch nachdenklich. Meine Tochter hatte mich tatsächlich noch nie weinen gesehen. Selbst, wenn ich mich mal mit ihrem Papa gestritten hatte. Ich meinen Job verlor oder als es meiner Mama anfing, sehr schlecht zu gehen.

Und dabei gehöre ich zu den Menschen, die schnell weinen. Wenn ich so richtig wütend bin, bekomme ich einen Kloß im Hals und die Tränen schießen mir in die Augen. Wenn ich gerührt bin – und dazu reicht oftmals schon ein schönes Lied – läuft mir ein einsames Tränchen über die Wange. Und wenn ich wirklich traurig bin – dann gibt es kein Halten mehr.

Meine Trauer machte ich mit mir alleine aus. Foto: Bigstock

Ich habe nur nie vor meiner Tochter geweint. Ich habe auf dem Klo geweint und unter der Dusche – das Prasseln des Wassers übertönt das Schluchzen so schön. Ich habe im Auto geweint oder abends im Bett, mein Gesicht ins weiche, tröstliche Kissen gedrückt. All das war okay und erfüllte seinen Zweck:

Meinen Schmerz von meiner Tochter fernzuhalten.

Ob das funktioniert hat? Ich bezweifle es. Denn auch, wenn meine Tochter nicht eine meiner Tränen gesehen hat, so hat sie natürlich mit ihren feinen Kinder-Antennen doch gespürt, dass es mir manchmal nicht gut geht.  Ist auf meinen Schoß gekrabbelt und hat mich fest in ihre kleinen Arme geschlossen. Und ist das nicht auch normal? Sollten Kinder nicht lernen, dass auch Trauer mit zu unserem Leben gehört?

Nein, an diesem Tag habe ich begriffen: All das Verstecken meiner Tränen hat meiner Tochter höchstens gezeigt, dass „Große“ nicht mehr weinen – es also etwas Kindliches, Albernes sein muss. Dass es ein echtes Zeichen von (kindlicher) Schwäche sein muss, wenn die Tränen über das Gesicht laufen.

Wir alle wissen, dass es nicht so ist. Weinen ist befreiend, Weinen kann sogar etwas ganz Wunderbares sein – auf jeden Fall aber ist Weinen ein ganz normaler Bestandteil unseres Lebens. Unseres ganzen Lebens, bis hin zum Sterbebett. Und wer sich traut, vor anderen zu weinen, ist nicht schwach – sondern beweist wahre Stärke, weil man andere bis in sein Herz schauen lässt.

Und tatsächlich hat meine Tochter mich kurze Zeit später dann doch weinen gesehen. Es war nach einem harten Tag, wir stritten uns gerade besonders heftig – und plötzlich war ich so erschöpft und so verletzt, dass mir Tränen in die Augen schossen. Es schüttelte mich richtig.

Meine Tochter war wie erstarrt, sie lief aus dem Zimmer, sie weinte ebenfalls… Doch als wir uns beide beruhigt hatten, kam sie zu mir und nahm mich in den Arm. Ich erklärte ihr, dass Erwachsene auch mal weinen – „vor allem Mama!“. Und dass das wirklich ganz normal ist und sie sich keine Gedanken machen muss.

Seither versuche ich, dieses Thema ganz natürlich zu behandeln. Auf der Hochzeit meiner Freundin schluchzte ich aus Ergriffenheit wie ein Schlosshund, mit meiner Tochter auf dem Schoß. Ich erkläre ihr, dass Menschen sowohl aus Trauer als auch vor lauter Glück weinen.

Innerlich widerstrebt es mir immer noch, mich so vor ihr „gehen zu lassen“. Aber ich bin schon einige Male über meinen Schatten gesprungen. Und fühlte mich danach gleich besser.

Ich möchte nicht, dass meine Tochter anfängt, ihre Tränen herunterzuschlucken. Natürlich muss sie wie alle mit den Jahren lernen, ihre Emotionen zu kontrollieren. Aber so zu tun, als gäbe es diese nicht, das möchte ich ihr ganz sicher nicht mitgeben.

Sie soll wissen, dass es kein Zeichen von Schwäche ist, zu weinen. Im Gegenteil, starke Frauen und im Übrigen auch starke Männer können Tränen zeigen, ohne sich „etwas zu vergeben“. Denn Gefühle sind nie weiblich oder männlich, sondern immer menschlich.

Laura Dieckmann

Als waschechte Hamburgerin lebe ich mit meiner Familie in der schönsten Stadt der Welt – Umzug ausgeschlossen! Bevor das Schicksal mich zu Echte Mamas gebracht hat, habe ich in verschiedenen Zeitschriften-Verlagen gearbeitet. Seit 2015 bin ich Mama einer wundervollen Tochter.

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