Niemand ist perfekt. Das weiß doch eigentlich Jeder.
Und doch scheint es in unserer Gesellschaft ein unausgesprochenes Ziel zu sein, den Zustand der Perfektion zu erreichen. Und das bekommen bereits unsere Kinder zu spüren.
Bei Twitter klagte neulich eine Bloggerin über die Zustände in der Schule ihrer Tochter. Dort gab es im Sportunterricht nur dann die Note 1, wenn die Kinder es schafften, am Seil bis an die Turnhallendecke zu kommen. Wer die Decke knapp verfehlte, musste sich mit einer 2 begnügen.
„Christine, Sie haben wirklich ein schönes Bild gezeichnet. Eigentlich müsste ich Ihnen dafür eine 1 geben. Aber leider ragt Stefanies Exemplar dermaßen heraus, dass ich bei Ihnen nur eine 1- notieren kann.“ Mein Kunst- und Klassenlehrer auf dem Gymnasium war wirklich ein prima Kerl. Nett, unkompliziert, humorvoll. Nur, wenn es um seine Benotung ging, wurde er von der sympathischen Lehrkraft zur unerbittlichen Autoritätsperson.
Natürlich war ich auch mit der 1- zufrieden. Allein die Tatsache, dass mein Bild es überhaupt Wert war, eine sehr gute Note zu erzielen, war für mich schon Grund zur Freude. Die Kriterien allerdings, wie es immer zu den Endnoten kam, brachten mich jedes Mal dazu, den Kunstraum nach der Schulstunde schimpfend zu verlassen.
Wie soll unsere nächste Generation glaubwürdig lernen, dass Fehler im Leben dazugehören und kein Mensch perfekt ist, wenn bereits unsere Kinder von klein auf vermittelt bekommen, dass gut aber nie gut genug ist? Dass nur der zählt, wer hundert Prozent gibt? Und nicht mal sich anstrengen und 100% geben ist genug! Nein, die Messlatte setzen die Anderen. Lehrer, Erzieher, Arbeitgeber. Und die wollen vergleichen, fehlerfreie Arbeiten sehen und vor allem bewerten.
Kreativität? Gerne, aber nur, wenn es den (oft viel zu hohen) Ansprüchen genügt. Alle Anderen bekommen schnell mitgeteilt, dass sie nicht gut genug sind. Durch eine 2 oder 3 auf dem Zeugnis. Oder durch eine Kündigung im Job, weil der neue Mitarbeiter vierundzwanzig Stunden am Tag arbeitet, nicht schläft und niemals Urlaub nimmt.
Als Frau Männig, unsere Sportlehrerin der 9. Klasse, unsere Tanzchoreografie anhand eines aufgenommenen Videos benotete, wusste ich bereits vor unserem Auftritt, dass ich verloren hatte. Alle vorigen Übungsstunden zählten nicht. Allein die Videoaufnahme wurde für die Bewertung zu Rate gezogen. Dass ich als Hochsensible nur deswegen schon steifer und unsicherer vor der Kamera mit dem rhythmisch rot-blinkenden Licht herumhopste, war also so klar wie Klärchen. Die entsprechende Note (ich glaube es war eine 3) also auch.
Eine 3 auf dem Zeugnis war für mich selbst in der Grundschule schon eine bittere Niederlage. „Befriedigend“ klang nach verächtlichem Nase hochziehen. Wie irgend so ein undefinierbarer Mischmasch aus „Sie war anwesend und stets bemüht.“
Was tun wir unseren Kindern mit dieser Haltung nur an? Selbst die, die mit lauter Zweien auf dem Grundschulzeugnis herumlaufen, zweifeln inzwischen schon an ihrem Können und sind zunehmend demotiviert, ihre Kreativität und Talente überhaupt noch auszuleben. Weil es immer Mitschüler gibt, die besser sind. So ein Quatsch, behaupte ich! Gerade in kreativen Fächern gibt es doch kein „besser“ oder „schlechter“! Und nur, weil ich mit Ballsport nichts anfangen kann, heißt das doch nicht, dass ich generell unsportlich bin oder keine Freude an Bewegung habe.
Noch befinden meine Kinder sich in der glücklichen Situation, nicht bewertet zu werden. Noch besuchen Mini und Maxi den Kindergarten, müssen sich nicht mit Noten und Bewertungssystemen herumärgern. Aber ich frage mich, wie lange das noch so bleibt. Wie lange dürfen unsere Kleinsten noch unbeschwert vor sich hin spielen, ohne, dass die Erzieherin kommt und etwas an dem gemalten Bild oder dem gebauten Turm auszusetzen hat?
Wann wird die spielerische Fremdsprachenförderung in der KiTa zum Druckmittel für Schulanfänger? Wie gehen wir Eltern in Zukunft mit den immer höheren Anforderungen seitens der Schulbildung um? Abitur nach der zehnten Klasse, Jurastudium innerhalb von drei Semestern? Und am Ende zig Burn-Out-Patienten beim Therapeuten?
Schön, dass immer mehr Eltern das System ankreiden. Ich hoffe, dass Appelle dieser Art an mehr Menschlichkeit auch die Köpfe der obersten Politik erreichen. Denn nur von dort aus kann sich auf Dauer etwas verändern.
„Perfektion ist Lähmung“ erkannte bereits Winston Churchill (1874 – 1965). Scheint, als hätten wir es noch nicht kapiert.