Müde und kaputt ist jede Neu-Mama – schließlich meldet sich ein Baby regelmäßig lautstark, um seine Bedürfnisse mitzuteilen. Aber wie ist es, wenn das Kind nicht mehr aufhört zu schreien?
Unsere Echte Mama Jessica (24) aus dem Landkreis Rottweil erzählt, was ein Schreikind für den Alltag bedeutet:
„Mein Mann und ich haben uns im März 2015 sehr schnell ineinander verliebt. Im darauffolgenden Jahr setzte ich zu unserem 1-jährigen Jubiläum die Pille ab und im Mai 2016, nach 14 Monaten Beziehung, gaben wir uns das Ja-Wort.
Im November 2016 hielten wir dann auch einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand.
Die Schwangerschaft verlief für mich von Anfang an nicht so super. Es gab den Verdacht auf eine Eileiterschwangerschaft. Und anfangs hatte ich stark mit den üblichen Beschwerden wie Übelkeit und Appetitlosigkeit zu kämpfen.
Ab der 12. Woche musste ich mich ständig übergeben. Bis in die 25. Schwangerschaftswoche musste ich dagegen Medikamente nehmen.
Als das endlich ein Ende hatte, lagerte mein Körper immer mehr Wasser ein. Parallel stiegen meine Blutdruckwerte enorm, und ich hatte Eiweiß im Urin. Das war dann der nächste Schock: Der schleichende Prozess einer Schwangerschaftsvergiftung.
Drei Tage vor der 39. Schwangerschaftswoche bekam ich den Befund, dass mein Kind zu groß und zu schwer für die Woche wäre – die letzten 14 Tage bis zum errechneten Geburtstermin könne man nicht mehr abwarten. Die Geburt wurde eingeleitet. Die Einleitung schlug allerdings nicht an. Ich vertrug die Butdrucksenker nicht und bekam Blutungen.
Ich wollte nicht mehr, ich war am Ende. Also entschloss ich mich nach Absprache mit meinem Mann und reichlicher Überlegung zu einem Kaiserschnitt.
Unsere kleine Lilith Laurina kam am 21. Juli 2017 mit 4420 g und stolzen 56 cm um 11:30 Uhr auf die Welt.
Meine Gefühle nach der Geburt kann ich kaum beschreiben. Auf einmal ging alles so schnell und ich wusste nicht, wo mir der Kopf stand.
Ich lag nach der Operation im Aufwachraum, als mein Mann mit einem kleinen Menschen auf dem Arm zu mir kam. Ich wusste: Für diesen winzigen Menschen bin ich jetzt verantwortlich!
Auch mit den Nachwirkungen des Kaiserschnitts hatte ich stark zu kämpfen.
Ich war froh, dass wir ein Familienzimmer hatten und mein Mann mir von Anfang an unter die Arme greifen konnte. Die Schwestern waren auch nett, sie kümmerten sich um uns und halfen mir beim Anlegen meiner Tochter. Schon beim Stillen wurde uns klar: Die Kleine ist nicht wie alle anderen. Sie ließ sich nur sehr schwer anlegen, brüllte dabei lautstark und wenn es dann klappte, zog sie sehr hastig an meiner Brust.
Wir fütterten zu, ich pumpte ab und benutze Stillhütchen. Lilith war aber immer sehr hektisch und schrie sich in Rage, wenn es nicht schnell genug ging. Sie wollte meine Brust nicht annehmen. Sie weinte bitterlich. Wir waren verwirrt. Das viele lautstarke Schreien kam uns nicht normal vor.
Ich begann, mich im Internet umzugucken. Tippte in der Suchmaschine unsere sämtlichen Probleme ein: das Kind trinkt nicht richtig, es schreit beim Ablegen, schläft sehr unruhig…
Und dann konnte ich es lesen: Schreikind.
So wirklich bewusst wurde es uns dann in Liliths dritter oder vierter Lebenswoche. Viele Bekannte sprachen uns darauf an. Meine Familie sagte, das kenne man gar nicht, dass ein Kind so viel und so stark schreie. Unser Nachbar fragte, ob alles okay bei uns sei, er habe das Gefühl, die Kleine schreie den ganzen Tag.
Mit den Mädels meines Geburtsvorbereitungskurses war ich über WhatsApp immer noch verbunden. Aus ihren Nachrichten konnte ich herauslesen, dass ihre Babys bei weitem nicht so viel schrien wie Lilith. Eine der Mamas hat mir das Buch ,So beruhige ich mein Baby´ von Christine Rankel ausgeliehen.
Dort wurde es schön beschrieben: Schreikinder, also Babys mit Regulationsstörungen, neigen dazu, innerhalb einer Woche an 3 Tagen mehr als 3 Stunden am Tag zu schreien. Und das tat Lilith. Sie schrie lange, viel und oft. Unsere kleine Lilith war ein Schreikind.
Ich konnte nicht wirklich mit jemandem über dieses Thema reden. So haben wir uns bei der U-Untersuchung an unseren Kinderarzt gewandt. Er empfahl uns sofort, uns mit einer Schreiambulanz in Verbindung zu setzen.
Das alles war uns sehr unangenehm. Unsere Familie sagte nur: ,Lass das Kind doch mal schreien!´, ,Ihr seid noch so jung und einfach nur überfordert. Es war wohl noch zu früh für ein Kind!` oder ,Ein Kind großzuziehen ist doch nicht schwer, das schreit halt mal, stellt euch nicht so an.´
Auch deswegen vereinbarten wir einen Termin bei der Schreiambulanz im Klinikum Villingen-Schwenningen: Um uns die Bestätigung zu holen, dass wir nicht spinnen.
Mein Mann machte zu der Zeit eine Umschulung, er war manchmal 12 Stunden außer Haus. Wenn er dann heim kam, war ich fix und alle. Alles blieb auf der Strecke – auch wir. Er war sehr oft total übermüdet. Klar, wenn die Kleine nachts höchstens drei Stunden schläft und danach mindestens zwei Stunden weint und sich nicht beruhigen lässt.
Es kam sogar soweit, dass sein Chef uns beide um ein Gespräch bat. Er und seine Frau wollten uns klarmachen: Arbeit ist wichtig, ich bin die Frau und somit für das Kind verantwortlich. Ich sollte meinen Mann ruhen und arbeiten lassen. Und wieder: Ein Kind zu erziehen sei ja nicht so schwer!
Wie das ist, wenn man sein Kind nicht beruhigen kann?
Es ist nervenaufreibend und schmerzhaft. Man hat sein kleines, ein paar Wochen altes Schreikind vor sich, läuft mit ihm herum, legt es vor sich, gibt ihm Hilfe, weil es an starken Blähungen leidet – und nichts davon hilft gegen das Schreien. Ich las, man solle viel mit dem Kind rausgehen. So zog ich mit dem Kinderwagen los – und unsere Kleine schrie das ganze Dorf zusammen. Alle starrten uns an.
Ich begann mich zurückzuziehen. Unsere Familie besuchte ich nur selten, spazieren ging ich am liebsten dort, wo kaum etwas los war. Das Kind könnte ja jederzeit wieder mit dem Brüllen anfangen und dann gaffen einen alle an, so dass man sich wie ein Affe im Zoo vorkommt.
Wie oft hatte ich meine Kleine im Arm, weinte und flüsterte ihr zu: ,Bitte beruhige dich doch, ich weiß nicht mehr, was ich noch tun soll.´
Ich hätte dringend jemanden aus unserer Familie gebraucht, der mit Halt gegeben hätte. Aber aus dieser Richtung kamen weiterhin nur nutzlose Kommentare. Und auch mein Mann und ich stritten sehr viel, wenn die Kleine denn mal schlief. Wir diskutierten und ich begann, mir die Schuld an allem zu geben, weil ich mir den Kaiserschnitt gewünscht hatte. Ernst genommen fühlten wir uns eigentlich von keinem, da das Thema Schreikind selten angesprochen wird und viele darüber nichts wissen.
Wie wir es am Ende gemeistert haben?
Wir haben uns Hilfe geholt, entgegen allen Ratschlägen der Familie. In der Schreiambulanz ließen wir die Kleine untersuchen. Die nette Ärztin erklärte uns noch einmal ausführlich, was ein Schreikind ist. Und dass es einfach alles etwas schnell ging für Lilith. Sie bekam im Bauch schon jeglichen Stress meiner Schwangerschaft mit – und dann wurde sie so plötzlich auf die Welt geholt. Nun müsse sie sich erstmal anpassen.
Zum Glück zog sie uns auch endgültig den Zahn ,Trage dein Kind nicht so viel herum, sonst gewöhnt es sich das an.` Das hatten uns alle vorgebetet. Sie sagte, dass Babys viel Nähe und Körperkontakt bräuchten und dass sich ganz sicher kein Kind so schnell verziehen ließe. Sie nahm Lilith ganz entspannt auf den Arm und wir merkten nach und nach, wie die Kleine ruhiger wurde.
Mein Mann wechselte in einen Dreischicht-Betrieb. So war er täglich nach acht Stunden Arbeit wieder zu Hause. So können wir uns gegenseitig entlasten und Lilith hat viel mehr von ihrem Papa.
Und auch meine Mutter greift uns nun unter die Arme, sie nimmt uns die Kleine öfter mal für ein paar Stunden ab, und wir können jederzeit zu ihr kommen.
Wir beide mussten erst lernen abzuschalten, aber in solch einer Situation muss man sich dazu zwingen. Wir haben nun eine Familienhilfe. Sie kommt regelmäßig vorbei und begleitet uns durch das erste Lebensjahr von unserer kleinen Lilith. Sie steht uns bei Fragen zur Seite, und nahm mir mein schlechtes Gewissen: Auch sie hatte ein Schreikind – und das ohne Kaiserschnitt. Seit wir offen damit umgehen, geht es uns viel besser.
Mit einem geregelten Tagesablauf und kleinen Ritualen läuft das Schlafen gehen nun auch ohne Probleme. Lilith hat ein kleines Nachtlicht und ein Stofftier, das die Umgebungsgeräusche aus dem Mutterleib simuliert. Einer von uns beiden bleibt immer neben ihr am Bett sitzen, bis sie tief und fest schläft.
Lilith ist nun 5 Monate alt und weint immer weniger. Sie strahlt uns oft an und ist endlich in der Welt angekommen.
… So ist das Leben mit einem Schreikind. Es war eine sehr schwere Zeit, aber nun haben wir es geschafft.“